Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
morgen ist Frühlingsanfang - und schon heute soll Sie diese Ausgabe mit einem Werk von Lili Boulanger auf diese Jahreszeit einstimmen: D'un matin de printemps.
Lili Boulanger war zweifelsohne eine sehr begabte Komponistin des letzten Jahrhunderts - wäre sie nicht mit 24 Jahren an einer Magen-Darm-Erkrankung gestorben, würde man sie jetzt vielleicht zu den berühmten Avantgardisten zählen, an die man sich erinnert. Wenige Wochen vor ihrem Tod komponierte sie ihr Kammermusikstück "D’un matin de printemps" - "Von einem Frühlingsmorgen": vordergründig ein schwungvolles Scherzo, bei dem aber nach und nach klar wird, dass unter der Heiterkeit großer Schmerz liegt.
Paris, 1913: Lili Boulanger gewinnt als erste Frau den begehrten Kompositionspreis Prix de Rome. Mit nur 19 Jahren gelingt ihr der internationale Durchbruch. In der Presse heißt es: "Lili Boulanger hat über alle ihre männlichen Konkurrenten triumphiert, was die übrigen Kandidaten einigermaßen verstört zurückgelassen hat." Trotz ihres sehr kurzen Lebens, das von chronischer Krankheit geprägt war, hat sie ein umfangreiches und reifes Werk erschaffen. In der "Boulangerie" - so nennt sich der musikalische Kreis um Lilis ältere Schwester Nadia - trifft sich die musikalische Elite von Paris. 1917 komponiert Lili Boulanger ihr "D’un matin de printemps" - kurz darauf stirbt sie mit nur 24 Jahren.
1916 schreibt Lili Boulanger an ihre beste Freundin Miki: "Wenn ich auch nicht schwerkrank bin, kann ich Dir dennoch kaum verbergen, wie mutlos ich an manchen Tagen bin - nicht so sehr wegen der Schmerzen, die dieses Mal nicht so schlimm sind, auch nicht wegen der Langeweile - sondern, weil ich begreife, dass ich niemals das Gefühl haben werde, das getan zu haben, was ich wollte, denn ich kann nichts ohne Unterbrechungen tun, und die sind länger als meine Arbeitsphasen selbst!" Wieder ist Lili Boulanger ans Bett gefesselt. Ein Schicksal, das sie seit ihrer Kindheit begleitet. Die vor Kreativität und originellen musikalischen Ideen sprudelnde junge Frau wird durch ihre chronische Krankheit regelmäßig ausgebremst. Doch es hält sie nicht davon ab, immer wieder das Notenpapier herauszuholen, um ihre Kompositionen niederzuschreiben.
Als sie 1913 als erste Frau in der Geschichte des Wettbewerbs den Prix de Rome gewinnt, ist das ein regelrechtes Politikum. So liest man in der Zeitschrift Comœdia illustré: "Der Feminismus hat soeben einen großen Sieg davongetragen, der mit Ungeduld erwartet worden ist, seit Frauen beim Prix de Rome-Wettbewerb zugelassen sind.Dies ist das Verdienst der tatkräftigen und anmutigen Mademoiselle Lili Boulanger."
Doch abgesehen von der politischen Tragweite dieses Sieges, besticht die Musik von Lili Boulanger vor allem durch ihre geistige und musikalische Tiefe und Komplexität. Viele ihrer Werke sind religiös und von Schwermut geprägt. Im Gegensatz dazu durchströmt "D’un matin de printemps" eine jugendliche Frische und Leichtigkeit. In impressionistisch-luftigen Klangfarben wird ein strahlendes Bild der Natur in der Morgendämmerung gezeichnet, unter deren schimmernder Oberfläche im Mittelteil auch verhangene Stimmungen durchscheinen. In weniger als fünf Minuten offenbart Lili Boulanger ihre Instrumentierungskunst und Ökonomie. "D’un matin de printemps" ist gemeinsam mit dem Schwesterwerk "D’un soir triste" entstanden und liegt in drei Fassungen vor: für Violine und Klavier, für Klaviertrio (1917) und für Orchester (1918). Wenige Wochen nach Fertigstellung der Orchesterpartitur stirbt Lili Boulanger. Ihre Schwester, die einflussreiche Pädagogin und Dirigentin Nadia Boulanger, setzt sich nach ihrem Tod intensiv für das musikalische Erbe ihrer kleinen Schwester ein.
Zwei Konzertmitschnitte dieses kurzen Stücks stelle ich Ihnen heute gerne vor, zunächst mit dem Seattle Symphony unter der Leitung von Cristian Măcelaru, aufgezeichnet am 1. Februar 2018 in der Benaroya Hall:
Zum Vergleich: Das Finnish Radio Symphony Orchestra unter der Leitung von Nicholas Collon, aufgenommen in der Musiikkitalo in Helsinki am 8. September 2021:
Und da dieser Frühlingsbeginn so kurz ist, folgt als "Zugabe" noch ein Stück, das in dieser Reihe bereits einmal vorgestellt wurde: Ludwig van Beethovens Violinsonate Nr. 5 F-Dur op. 24, die sogenannte "Frühlings-Sonate" - neu sind die Interpreten, der Mitschnitt entstand am 7. Juni 2022 im New Yorker Jerome L. Greene Performance Space aus Anlass des 90. Geburtstags des WQXR-Moderators Bob Sherman. Es musizieren Joshua Bell und Emanuel Ax
Ihnen allen einen schönen Tag und für morgen einen schönen Frühlingsanfang mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler