Suche

Bach appassionato

Zur diesjährigen Passionszeit entstand die Idee zu dieser Online-Reihe. Übersetzt man Passionszeit mit Leidenszeit, dauert diese mit Blick auf die vergangenen Monate gefühlt für uns alle schon viel länger als die üblichen sieben Wochen. Daher sollte diese besondere Zeit in diesem Jahr musikalisch noch einmal anders bedacht werden: Das Wort Passion taucht auch in dem Begriff "appassionato" auf. Mit der Reihe "Bach appassionato" sollte somit die Wartezeit auf Musik, die in unseren Gottesdiensten momentan auch beinahe verstummt war, mit ausgewählten Bach-Kantaten verkürzt werden.

Die Advents- und die Fastenzeit waren die Zeiten, in denen Johann Sebastian Bach etwas weniger als sonst zu tun hatte; im übrigen Kirchenjahr musste er für jeden Sonn- und Feiertag eine eigene Kantate komponieren und diese dann auch gleich zweimal in den Leipziger Stadtkirchen aufführen. Sowohl die Advents- als auch die Passionszeit galt als „tempora clausa“, also als geschlossene oder stille Zeit. Zwischen dem Sonntag Invocavit und dem Karsamstag wurde in den Gottesdiensten keine Kantate aufgeführt.

Dennoch gibt es genügend Kantaten, die inhaltlich sehr gut für die Passionszeit geeignet sind. Mit diesem Format wurde aus der vermeintlich "stillen" Zeit eine klingende, tröstende und stärkende Zeit, die viele Menschen in unserer Propstei erreicht und bewegt hat. "Bach appassionato" endete am Ostersonntag, die einzelnen Ausgaben können Sie hier nachlesen und nachhören.

Matthias Wengler

"Bach appassionato" zum Ostersonntag am 4. April 2021

Für die letzte Ausgabe der Reihe "Bach appassionato" erwartet Sie heute nicht nur eine Bach-Kantate, sondern auch ein großartiges Chorwerk eines namhaften Kollegen. Doch zunächst zu Johann Sebastian Bach: "Christ lag in Todesbanden" BWV 4 zählt nicht nur zu seinen bekanntesten Kantaten, sie ist auch sein frühestes Osterwerk, vermutlich entstanden um 1707/1708.
 
Den Text bildet das Osterlied von Martin Luther von 1524, eine freie Nachdichtung der lateinischen Sequenz „Victimae paschali laudes“ in Anlehnung an das alte Lied „Christ ist erstanden“. Bachs Komposition folgt dem Prinzipder Choralvariation, indem jede der sieben Strophendes Lutherliedes einem Kantatensatz entspricht unddie Choralmelodie auf jeweils verschiedene Artenverarbeitet wird. Vorbereitet wird diese Abfolge vonArien - eingerahmt von einem Eingangschor und einem Schlusschoral - durch eine Sinfonia, in der dieAnfangszeile des Chorals bereits anklingt.
 
Vorbild für Bachs Kantate könnte Johann Pachelbels gleichnamige Osterkantate gewesen sein, die ebenfalls alle Strophen des Lutherliedes als Text verwendet und auffallende Parallelen zu Bachs Kantate aufweist. Dass Bachauch Jahrzehnte später von den Qualitäten seiner Kantate noch überzeugt war, zeigt die Übernahme des Stückes in seinen Choralkantaten-Jahrgang,mit dem die Kantate bis in seine letzten Lebensjahreund über seinen Tod hinaus immer wieder auch in denLeipziger Kirchen erklungen ist.
 
Unser heutiger Konzertmitschnitt beinhaltet auch noch ein weiteres Chorwerk, das ich Ihnen gerne noch empfehlen möchte. Es ist kaum vorstellbar, dass sich Johann Sebastian Bach, geboren 1685 in Eisenach, und Georg Friedrich Händel, geboren im selben Jahr in Halle, zeitlebens nie begegnet sind - auch wenn Paul Barz in seinem wunderbaren Theaterstück einmal eine "Mögliche Begegnung" herbeigeführt hat. Die Biographien beider Musiker waren zu unterschiedlich: Bach blieb in Sachsen, Händel verschlug es über Italien nach England - er war sicherlich der erste Europäer der Musikgeschichte.
 
In Rom entstand als eines der ersten Werke, mit denen der deutsche Protestant sich und seine Kunst bei Kardinälen und Patriziern einführte, das prachtvolle "Dixit Dominus", die Vertonung des 110. Psalms. Georg Friedrich Händel, 22 Jahre jung, war erst drei Monate in der Ewigen Stadt, als er einen ehrenvollen Auftrag erhielt: Zum Namenstag des spanischen Königs Philipp V., der in Frascati bei Rom gefeiert wurde, sollte er den Eingangspsalm für den Abendgottesdienst festlich vertonen. So entstand das etwa halbstündige "Dixit Dominus" HWV 232. Zwei Themenkomplexe behandelt Händel hier musikalisch: die Treue-Zusage Gottes an seine Anhänger und die Beschreibung Gottes als Krieger; Händel unterteilt den Psalm in neun Abschnitte und variiert dabei die Besetzung, insgesamt setzt er fünf Gesangssolisten mit fünfstimmigem Chor und Orchester ein.
 
Unter den Psalmvertonungen Händels sticht "Dixit Dominus" deutlich heraus, kein anderes Werk verfügt über eine so starke dramatische Expressivität und Vielgestaltigkeit. Im Gegensatz zur protestantischen geistlichen Musik jener Zeit ist Händels Werk nicht in sich gekehrt, sondern ganz im Rausch der katholischen Gegenreformation und wartet mit opernhafter Theatralik und atemberaubenden Wendungen auf. Händel mobilisiert alle Künste musikalischer Charakterisierung, von der direkten Lautmalerei bis zur feinen Symbolik, alle Ausdrucksformen von der innigen und virtuosen Arie bis zum majestätischen und kunstvoll durchwirkten Chorsatz. Hier zeigt sich der spätere Oratorienkomponist in jugendlichem Elan und erstaunlicher Souveränität - ein Meisterwerk!
 
Im Jahr 2014 feierte der von Sir John Eliot Gardiner gegründete Monteverdi Choir sein 50-jähriges Jubiläum - auf dem Programm des Konzertes, das am 22. Juni in der Königlichen Kapelle des Versailler Schlosses mit den English Baroque Soloists stattfand, standen die beiden vorgestellten Werke sowie die Motette "In convertendo" von Jean-Philippe Rameau:
 

www.youtube.com/watch


 
Für alle, die noch mehr zu Bachs Kantate erfahren möchten, folgen hier noch zwei Empfehlungen - eine Kurzeinführung mit Sir John Eliot Gardiner in englischer Sprache ist hier zu sehen:
 

www.youtube.com/watch


 
Im Rahmen der Weimarer Bachkantaten-Akademie 2015 fand am 16. August in der Bachkirche Arnstadt ein Gesprächskonzert mit Helmuth Rilling statt. Die Mitwirkenden sind Julia-Sophie Wagner (Sopran), Lidia Vinyes-Curtis (Alt), Nicholas Phan (Tenor), Tobias Berndt (Bariton) und die Ensembles der Bachkantaten-Akademie:
 

www.youtube.com/watch


 
Zum Schluss dieser Reihe noch zwei Anmerkungen: Falls Sie gestern keine Gelegenheit hatten, unseren NDR-Radiogottesdienst aus dem Kaiserdom zu hören, haben Sie mit dem folgenden Link hierzu noch Gelegenheit:
 

www.ndr.de/kirche/radiogottesdienste/index.html

"Bach appasssionato" zum Karfreitag am 2. April 2021

Die vorletzte Ausgabe der Reihe "Bach appassionato" erreicht Sie zum Karfreitag. Wie schon im vergangenen Jahr im Rahmen der Reihe "Musik in schwierigen Zeiten" möchte ich Ihnen auch in diesem Jahr Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion empfehlen - allerdings in einer besonderen Fassung.
 
Zum Karfreitag sind die Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Passionen in Leipzig eine Selbstverständlichkeit. Letztes Jahr war es wahrscheinlich angesichts der Corona-Pandemie das erste Mal seit etwa 150 Jahren, dass die Leipziger auf ihre Bach-Passion verzichten mussten.
 
Dazu wurde das Leipziger Bachfest im Sommer aus selbigem Grund abgesagt. Am 13. Juni 2020 sollte eine packende Fassung von Bachs Johannes-Passion aufgeführt werden: dargeboten von nur drei Personen auf der Bühne um den isländischen Tenor Benedikt Kristjánsson. Teil dieses Konzeptes war, dass etwa 5.000 Besucher auf dem Leipziger Altmarkt die Choräle singen. Das war nicht möglich, so dass diese Fassung am Karfreitag zur Todesstunde Christi 2020 in der leeren Thomaskirche am Bach-Grab aufgeführt wurde. Neben den drei Solisten sind Thomaskantor Gotthold Schwarz und ein Vokalensemble beteiligt.
 
Eingebunden in die Live-Ausstrahlung im letzten Jahr waren Choralzuspiele von Bach-Chören aus der Schweiz, aus Kanada und Malaysia. Außerdem waren Chöre und Bach-Fans auf der ganzen Welt eingeladen, daheim auf ihren Bildschirmen diese womöglich einzige Passionsaufführung zu verfolgen und die Choräle mitzusingen. Die Mitwirkenden sind Benedikt Kristjánsson (Tenor), Elina Albach (Cembalo), Philipp Lamprecht (Schlagwerk) und ein Vokalquintett unter der Leitung von
Gotthold Schwarz:
 

www.youtube.com/watch


 
Wer dagegen eine ganz klassische Aufführung der Johannes-Passion bevorzugt, dem empfehle ich gerne die Aufzeichnung vom 24. August 2008 im Rahmen der BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall. Es singen und musizieren: Mark Padmore (Evangelist), Peter Harvey (Christus), Katherine Fuge (Sopran) Robin Blaze (Countertenor) Nicholas Mulroy (Tenor), Jeremy Budd (Tenor), Matthew Brook (Bass) sowie der Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner:
 

www.youtube.com/watch

"Bach appassionato" zum Sonntag Palmarum am 28. März 2021

Wir nähern uns dem Ende der Passionszeit - meine Wahl für den Sonntag Palmarum ist auf die Bach-Kantate "Himmelskönig, sei willkommen" BWV 182 gefallen, die für diesen Sonntag bestimmt ist.
 
In Johann Sebastian Bachs Lebensgeschichte kommt dieser Kantate eine besondere Bedeutung zu. Sie entstand in seiner Weimarer Zeit und steht in engem Zusammenhang mit seiner Ernennung zum Hofkonzertmeister am 2. März 1714. Mit der Übernahme dieses Amtes – zusätzlich zu seiner seit 1708 ausgeübten Tätigkeit als Hoforganist und Kammermusiker – zählte die regelmäßige Komposition und Aufführung von Kantaten erstmals zu seinen Pflichten. Einmal im Monat standen sie ab diesem Zeitpunkt im Hofgottesdienst auf dem Programm. Rund 30 Kantaten dürften bis Ende 1716 entstanden sein, von denen etwa 20 erhalten sind.
 
„Himmelkönig, sei willkommen“ wurde am Palmsonntag des Jahres 1714 (25. März) in der Weimarer Schlosskapelle uraufgeführt. In diesem Jahr fiel der Palmsonntag mit dem unbeweglichen Fest Mariae Verkündigung zusammen. Dementsprechend knüpft der Kantatentext, der vermutlich größtenteils vom Weimarer Hofdichter Salomon Franck stammt, teilweise an die Perikopen beider Feste an; im Zentrum steht aber der Einzug Jesu nach Jerusalem und die Aufforderung an den gläubigen Christen, dem Gottessohn aus Dankbarkeit für dessen Opfer sein Herz zu widmen. Demnach wird der Einzug Jesu in Jerusalem als König mit dem Einzug Jesu in die Herzen der Gläubigen in Verbindung gebracht. Als weitere Text-­ und Liedvorlagen sind nachweisbar Psalm 40, 8­+9 (3. Satz) sowie die 33. Strophe aus “Jesu Leiden, Pein und Tod” von Paul Stockmann (Satz 7). Bach scheint die Kantate bereits in Weimar wiederaufgeführt zu haben, sodann mehrfach und mit teilweise einschneidenden Veränderungen der Besetzung in Leipzig (1724 und um 1728).
 
Die Besetzung des Werkes ist für den frühen Bach typisch, da sie entgegen der frühbarocken Praxis der chörigen Orchestrierung auch individuelle, solistisch besetzte Instrumente einander gegenüber stellt. Hier spürt man, dass Bach sich mit den modernen Formen Italiens beschäftigte, die Prägung durch Antonio Vivaldi ist unüberhörbar. So finden sich neben Anklängen an die konzertierende Praxis speziell im Stil von Vivaldi auch schon Da-capo-Arien. Der kleine Raum der Weimarer Schlosskapelle ist ohnehin nur für eine kleine Besetzung geeignet gewesen.
 
Heute erwartet Sie ein Mitschnitt aus der Stuttgarter Stiftskirche vom 22. Oktober 2020. Die Aufführung fand statt unter Beachtung der Bestimmungen des Landes Baden-Württemberg für Veranstaltungen (große Abstände zwischen den Musiker*innen, Plexiglas-Rollups vor den Sänger*innen, sehr begrenzte Zahl von zugelassenen Besucher*innen) im Rahmen des Zyklus’ Bach:vokal. Es singen und musizieren Elvira Bill (Alt), Philipp Nicklaus (Tenor), Christian Wagner (Bass), das solistenensemble stimmkunst und das Stiftsbarock Stuttgart unter der Leitung von Kay Johannsen.
 

www.youtube.com/watch

"Bach appassionato" zum Sonntag Judika am 21. März 2021

Für den Sonntag Judika ("Richte") habe ich die Bach-Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ BWV 106, auch unter dem Titel „Actus tragicus“ bekannt, ausgewählt.
Bis heute zählt diese Kantate zu den bekanntesten und am meisten geschätzten Werken – ein "Geniewerk, wie es auch großen Meistern nur selten gelingt" (Alfred Dürr). Dieses Frühwerk entstand noch in seiner Mühlhausener Zeit, vermutlich im Jahr 1707, als Bach das Amt des Organisten an der Kirche Divi Blasii übernahm. Den möglichen Anlass für die Komposition könnte die Trauerfeier für den Mühlhausener Bürgermeister Adolph Strecker gegeben haben.
 
Die kurze, langsame Sonatina mit zwei Blockflöten, zwei Gamben und Continuo stimmt den Hörer auf den Charakter der Kantate ein. Diese Instrumentenkombination ist in Bachs Vokalschaffen einzigartig, sie könnte auf eine mitteldeutsche Tradition zurückgehen. Die verschiedenen Bibelworte des Alten Testaments und des Neuen Testaments sowie einzelne Liedstrophen aus verschiedenen Kirchenliedern von Martin Luther und Adam Reuser nehmen alle auf die Endlichkeit und das Sterben Bezug. Die zwei unterschiedlichen Sichtweisen der Testamente und die Ablösung des alten durch den neuen Bund, sind durch die Zweiteilung der Kantate gegliedert.
 
Zwei Aufführungen dieses Werks möchte ich Ihnen heute gerne empfehlen - zunächst mit Els Bongers (Sopran), Elisabeth von Magnus (Alt), Lothar Odinius (Tenor), Klaus Mertens (Bass) sowie dem Amsterdam Baroque Orchestra and Choir unter der Leitung von Ton Koopman:
 

www.youtube.com/watch


 
Eine weitere Aufführung kommt ebenfalls aus den Niederlanden: Die Niederländische Bachgesellschaft ist das weltweit älteste Barockensemble. Sie verdankt ihr Bestehen und ihre Bekanntheit den Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, die seit 1922 jährlich in der Grote Kerk in Naarden und mittlerweile auch in weiteren Orten in den Niederlanden stattfinden. Anlässlich ihres 100-jährigen Jubiläums in diesem Jahr wird schon seit einiger Zeit unter dem Titel "All of Bach" das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach aufgeführt und in Videos veröffentlicht. Bachs "Actus tragicus" ist hier in einem Mitschnitt vom 16. Mai 2015 in der Oostkerk in Middelburg zu sehen, es singen und musizieren Dorothee Mields (Sopran), Alex Potter (Alt), Charles Daniels (Tenor), Tobias Berndt (Bass) und die Netherlands Bach Society unter der Leitung von Jos van Veldhoven:
 

www.youtube.com/watch


 
Die einleitende Sinfonia der Kantate hat der ungarische Komponist György Kurtág auch als Fassung für Klavier zu vier Händen bearbeitet. Lucas und Arthur Jussen spielten die Sinfonia am 25. Juni 2019 im Konzerthaus Dortmund:
 

www.youtube.com/watch

"Bach appassionato" zum Sonntag Laetare am 14. März 2021

"Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem" - für den Sonntag Laetare ("Freue dich") habe ich die Bach-Kantate BWV 159 ausgewählt. Sie entstand zum Sonntag Estomihi ("Sei mir", nach Psalm 31, 3: „Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!“) und wurde vermutlich am 27. Februar 1729 zum ersten Mal aufgeführt. Im Zentrum des von Christian Friedrich Henrici (Picander) gedichteten und 1728 gedruckten Librettos steht denn auch der Vorausblick auf Jesu Opfergang und zugleich das Nachdenken über dessen Konsequenzen für den einzelnen Gläubigen und seine persönliche Nachfolge. Für den titelgebenden Eingangssatz wird der Bibeltext aus Lukas 18, 31 übernommen, Satz 2 verarbeitet die Choralstrophe “Ich will hier bei dir stehen” (1656) von Paul Gerhardt. Der Schlusschoral wurde aus dem Lied “Jesu Kreuz, Leiden und Pein” (1633) von Paul Stockmann gewählt.
 
Die Besetzung der Kantate ist eher klein und sieht neben dem vierstimmigen Chor (nur im Schlusschoral) drei Vokalsolisten (Alt, Tenor und Bass) vor sowie ein Orchester aus Oboe, Streichern und Continuo. Der ariose Auftakt der Kantate lässt gleich zu Anfang des Werkes die Stimme Christi erklingen, der damit seinen Passionsweg ankündigt.
 
Unser heutiger Konzertmitschnitt entstand in der Domkirche in Utrecht am 26. August 2012. Es singen und musizieren Margot Oitzinger (Alt), Virgil Hartinger (Tenor), Mauro Borgioni (Bass), das Collegium Vocale der Salzburger Bachgesellschaft und La Divina Armonia unter der Leitung von Lorenzo Ghielmi:
 

www.youtube.com/watch

"Bach appassionato" zum Sonntag Okuli am 7. März 2021

Für den Sonntag Okuli ("Augen", nach Psalm 25, 15: "Meine Augen sehen stets auf den Herrn) habe ich die Bach-Kantate "Widerstehe doch der Sünde" BWV 54 ausgewählt, die heute zu den beliebtesten Solokantaten von Johann Sebastian Bach zählt.
 
Der kurze, nur drei Sätze umfassende Text stammt aus einer Sammlung von Kantatentexten des Darmstädter Hofpoeten Georg Christian Lehms aus dem Jahre 1711 und warnt in drastischen Worten davor, dass kein Sünder das Reich Gottes erben wird. Es ist sicher kein Zufall, dass Bach diesen Text einer Altstimme zugewiesen hat, die damals oft als Symbol für den reuigen Sünder verstanden wurde.
 
Die Kantate stammt aus Bachs Weimarer Zeit und ist nur in einer Partiturreinschrift von Johann Gottfried Walther (Notentext) und Johann Tobias Krebs (Vokaltext) erhalten geblieben. Sie ist zwar im Textdruck von Lehms dem Sonntag Okuli zugewiesen, kann aber ohne Weiteres auch bei anderen Gelegenheiten im Kirchenjahr gesungen werden.
 
An Instrumenten werden nur Streicher und Continuo gefordert. Für Bach dürfte es eine große Herausforderung gewesen sein, innerhalb dieses bescheidenen Rahmens ein Spannungsfeld zu schaffen, das den Hörer fesselt. Anregen ließ sich der Thomaskantor offenbar durch den im Rezitativ dargelegten Doppelcharakter der Sünde, die "von außen eben wunderschön, von innen aber tödlich und ein Werk des Teufels" genannt wird.
 
Die Eingangsarie malt die verlockende Schönheit der Sünde, während zugleich der Einsatz mit einem dissonanten Akkord zum Widerstand aufruft. Auch der Mittelteil der Arie ist voller harmonischer Kühnheiten, von denen besonders der zweimalige Trugschluss zur Schilderung des "Fluchs, der tödlich ist", seine Wirkung auf den Hörer nicht verfehlt. Im folgenden Rezitativ schafft Bach es durch die Auswahl der Harmonien, auf die Worte "ein leerer Schatten und übertünchtes Grab" diese Leere hörbar zu machen. Der ariose Schluss des Rezitativs erhält seinen Sinn durch die Textbezogenheit der raschen Continuoläufe, die das scharfe Schwert, das durch Leib und Seele fährt, abbildet. In der abschließenden Arie wird die trügerische Schönheit der Sünde als wahrhaft verwerflich, aber auch als besiegbar enthüllt. Die Sünde ist eine Gabe des Teufels, aber - so der Kantatendichter: Man ist ihr nicht hilflos ausgeliefert, sondern man kann ihr "mit rechter Andacht" widerstehen, so dass der Versucher die Flucht ergreift.
 
Unser heutiger Mitschnitt kommt aus Kattowitz - der Countertenor Kai Wessel musizierte die Kantate am 5. September 2013 mit dem Orkiestra Historyczna:
 

www.youtube.com/watch

"Bach appassionato" zum Sonntag Reminiscere am 28. Februar 2021

Zum Sonntag Reminiscere ("Gedenke") am 28. Februar möchte ich Ihnen die Bach-Kantate "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn" BWV 157 vorstellen.

Bei dieser Kantate handelt es sich um den ersten Teil der in einem Gedächtnisgottesdienst am 6. Februar 1727 dargebotenen Trauermusik für den bereits 1726 verstorbenen Kammerherrn und Hofrat Johann Christoph von Ponickau. Die Musik hatte noch einen zweiten Teil nach der Predigt, dessen Text nicht von Picander, sondern von Georg Christian Lehms stammt; diese Komposition ist jedoch nicht erhalten. Bach hat diese Kantate wahrscheinlich später auch selbst am Fest Mariae Reinigung wieder aufgeführt – was leicht möglich ist, berichtet doch die Evangelienlesung dieses Tages vom greisen Simeon die Worte: "Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen."

Da die spätere Fassung nur in einer Abschrift des Thomanerpräfekten Penzel von 1755/56 überliefert ist, bleiben hinsichtlich der Werk­chronologie und Instrumentierung sowie des Anteils Bachs an der Umarbeitung Fragen offen. Die Besetzungsverhältnisse dieser Kantate tragen offenbar den besonderen Umständen ihrerEntstehungsgeschichte Rechnung. Den Abschluss der Kantate bildet die letzte Strophe des Liedes "Meinem Jesum lass ich nicht", das Christian Keymann 1658 komponiert hat. Bach vertont diesen Satz als schlichten, dennoch stärker als gewöhnlich polyphon aufgelockerten Chorsatz, als Vokalsolisten sind lediglich Tenor und Bass beteiligt, die mit einem Duett die Kantate eröffnen.

Unser heutiger Mitschnitt kommt aus der Schweiz: Die J.S.Bach-Stiftung St. Gallen führt innerhalb von rund 25 Jahren das gesamte Vokalwerk des Leipziger Thomaskantors auf. Die erste Kantatenaufführung fand 2006 statt, musikalischer Spiritus rector dieses Projekts ist der international renommierte Pianist, Organist, Cembalist, Komponist, Dirigent und Improvisator Rudolf Lutz. Alle Werkeinführungen, Konzerte und Reflexionen werden in Ton und Bild festgehalten. In den vergangenen 15 Jahren ist bereits ein großer Fundus an Film- und Audiomaterial sowie ergänzenden Inhalten zu den Vokalwerken entstanden. Stiftungsziel ist unter anderem, das Bachsche Vokalwerk zu verbreiten und insbesondere der Jugend weiterzugeben. Aus diesem Grund hat die J.S.Bach-Stiftung Bachipedia ins Leben gerufen. 

Aus dem Konzert vom 18. November 2016 sehen Sie nun diese Kantate aus der evangelischen Kirche Trogen. Es musizieren Georg Poplutz (Tenor), Stephan MacLeod (Bass) sowie Chor und Orchester der J.S.Bach-Stiftung unter der Leitung von Rudolf Lutz:

www.bachipedia.org/werke/bwv-157-ich-lasse-dich-nicht-du-segnest-mich-denn/

"Bach appassionato", 1. Ausgabe zum Sonntag Invocavit 21. Februar 2021

Mit dem Aschermittwoch hat in dieser Woche zugleich auch die Passionszeit begonnen. Übersetzt man Passionszeit mit Leidenszeit, dauert diese mit Blick auf die vergangenen Monate gefühlt für uns alle schon viel länger. Bis zum Osterfest möchte ich versuchen, die Passionszeit musikalisch noch einmal anders zu bedenken. Das Wort Passion taucht auch in dem Begriff "appassionato" auf - und so soll die neue Reihe "Bach appassionato" die Wartezeit auf Musik, die in unseren Gottesdiensten momentan auch beinahe verstummt, mit ausgewählten Bach-Kantaten verkürzen. "Bach appassionato" läuft zusätzlich zur Reihe "Musik in schwierigen Zeiten", die mittlerweile kurz vor der 140. Ausgabe angekommen ist und nach wie vor auf den bekannten Websites (u. a. www.propstei-koenigslutter.de(http://www.propstei-koenigslutter.de)) veröffentlicht wird.

Die Advents- und die Fastenzeit waren die Zeiten, in denen Johann Sebastian Bach etwas weniger als sonst zu tun hatte; im übrigen Kirchenjahr musste er für jeden Sonn- und Feiertag eine eigene Kantate komponieren und diese dann auch gleich zweimal aufführen: Vormittags in der einen, nachmittags in der anderen Leipziger Stadtkirche. Sowohl die Advents- als auch die Passionszeit galt als „tempora clausa“, also als geschlossene oder stille Zeit. Zwischen dem Sonntag Invocavit ("Er hat gerufen") und dem Karsamstag wurde in den Gottesdiensten keine Kantate aufgeführt. Dennoch gibt es genügend Kantaten, die inhaltlich sehr gut in die Passionszeit passen. So soll mit diesem Format aus der vermeintlich "stillen" Zeit eine klingende, tröstende und stärkende Zeit für uns alle werden. Lassen Sie sich gerne von dieser Musik begeistern - zukünftig also jeden Sonntag bis zum Osterfest mit "Bach appassionato".

Bei der Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“ BWV 131 handelt es sich um eine der frühesten erhaltenen Kantaten Bachs. Sie entstand 1707 in Mühlhausen, wo der junge Bach als Organist an der Divi-Blasii-Kirche wirkte. Aus einem handschriftlichen Vermerk Bachs auf der Partitur geht hervor, dass das Werk von Georg Christian Eilmar in Auftrag gegeben wurde, der zu dieser Zeit Pastor der Marienkirche Beatae Mariae Virginis in Mühlhausen war.

Dem Kantatentext mit Psalm 130 als Grundlage sind die Strophen 2 und 5 des Liedes „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ von Bartholomäus Ringwaldt hinzugefügt. Die Zusammenstellung der Texte stammt dabei entweder von Bach selbst oder seinem Auftraggeber Eilmar. Der Anlass, für den das Werk komponiert wurde, ist unbekannt – als wahrscheinlich gilt, dass die Kantate für einen Bußgottesdienst nach dem Mühlhäuser Stadtbrand am 29. Mai 1707 entstand. Nachdem der zugrunde gelegte Psalm 130 den Eingangspsalm für den 11. Sonntag nach Trinitatis darstellt, liegt die Vermutung nahe, die Kantate könnte an diesem Sonntag (4. September 1707) aufgeführt worden sein; dokumentarische Belege für die Richtigkeit dieser Annahme liegen jedoch nicht vor.

Das leidenschaftliche Jugendwerk des 22-jährigen Bachs wurde 1881 erstmals von Bachforscher Friedrich Wilhelm Rust veröffentlicht. Als Druckvorlage fungierte damals die autographe, mit besonderer Sorgfalt geschriebene Originalpartitur, die heute auf eine abenteuerliche und aufregende Geschichte zurückblicken kann, denn sie galt nach dem Zweiten Weltkrieg als verschollen und tauchte später wieder in New York auf.

Die Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir“ setzt sich aus fünf fließend ineinander übergehenden Sätzen zusammen. Das Werk folgt dabei einer symmetrischen Form: Drei große Chorsätze werden durch intensive Dialogabschnitte, in denen Psalm und Choral miteinander verknüpft werden, unterbrochen. Bach war dabei bestrebt, die Einzelsätze möglichst charakteristisch zu vertonen; dennoch verstand er das Werk als eine große Einheit. Die ausdrucksstarke Komposition bedient sich dabei der musikalischen Rhetorik und nutzt diese, um die Thematik des Flehens und Klagens expressiv in der Musik zu verdichten.

Sehen Sie hier die Kantate mit den Solisten Lothar Odinius (Tenor), Klaus Mertens (Bass) und sowie dem Amsterdam Baroque Choir and Orchestra unter der Leitung von Ton Koopman:

www.youtube.com/watch

Wer noch mehr über diese Kantate erfahren möchte, dem sei das folgende Gesprächskonzert mit Helmuth Rilling und zahlreichen Musikbeispielen aus der Bachkirche in Arnstadt vom 16. August 2015 im Rahmen der Weimarer Bachkantaten-Akademie empfohlen:

www.youtube.com/watch