Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute auf dem Programm: Franz Schuberts Streichquartett G-Dur D 887.
Es entstand 1826 in nur zehn Tagen und ist das progressivste und wohl modernste Quartett Schuberts: Mit einer Dauer von rund 50 Minuten sprengt es den gewohnten zeitlichen Rahmen, und vor allem geht es auch harmonisch neue, ungewohnte Wege. Das Werk wurde erst 22 Jahre nach Schuberts Tod am 8. Dezember 1850 durch das Hellmesberger-Quartett in Wien öffentlich uraufgeführt, und die Reaktionen waren zwiespältig, das Publikum zum Teil mit der Intensität und Modernität des Quartetts überfordert. Heute gilt es als einer der Höhepunkte in Schuberts kammermusikalischem Schaffen.
Der erste Klang scheint aus dem Nichts zu kommen. Als Zuhörer weiß man noch gar nicht, wie man den langsam anschwellenden G-Dur-Akkord deuten soll: Ist er der Beginn einer Melodie, ist es eine Begleitung, klingt die Musik empathisch oder melancholisch? Dann gibt es einen Ruck, die Szene kippt unerwartet in grelles Moll um - und das mit einer furiosen Geste, die selbst Beethoven imponiert und kaum ein Komponist vor Schubert gewagt hätte. Nach einem melancholischen Neubeginn unter zittriger Tremolo-Begleitung schwankt das Hauptthema zwischen den Tonarten, scheint sich mit unglaublichem Kraftaufwand immer wieder aus sich selbst aufzubauen. Es folgt noch ein verinnerlichter Tanz, der in seiner Entrückung so typisch für Schuberts Stil ist. Wie im Filmschnitt folgen stärkste Kontraste auf engem Raum und zeigen damit unmissverständlich: Hier bricht sich eine neue Art, Musik zu denken und vor allem zu fühlen, mit Wucht ihre Bahn.
"Das Stück hat einzelne hervorragend schöne Stellen", schreibt ein Kritiker anlässlich der Uraufführung am 8. Dezember 1850. "Anspruch auf ein wirkliches Kunstwerk kann es aber nicht machen; es ist in seiner ganzen modulatorischen Anordnung wild, bunt, formlos. Fortwährend mit Dur und Moll auf derselben Tonstufe zu wechseln, kommt hier bis zum Überdrusse vor." Tja. Leider hat der Rezensent nicht verstanden, dass es in dieser Musik genau darum geht. Beethoven: entwickelt sich. Schubert: passiert. Wie eine Naturgewalt. Er hat das damals schon zu spüren bekommen.
Rückblende. 1826. Kein gutes Jahr ist das für Schubert. Kein Geld, wie immer. Und er hat eine Schaffenskrise. Unglücklich - und gleichzeitig sehr aufgeregt - geht er ins Konzert: Der große Beethoven hat eine Uraufführung: sein Quartett op. 130. Und Schubert ist, salopp gesagt, geplättet. Schlagartig ist die Inspiration zurück. Und wie! In elf Tagen schreibt er die Partitur eines neuen Streichquartetts, das wie ein Gegenentwurf zu Beethoven ist. In der Wohnung des Schubertfreundes und Komponisten Franz Lachner ist 1827 die Uraufführung. Privat und in kleinem Rahmen. Das war's.
Schubert schickt die Noten an einen Verlag, der aber lehnt dankend ab. "Ihre Werke sind für einen Verleger alle so anziehend, dass die Wahl schwer ist", schreibt der Verleger schleimig zurück. Lieber will er Lieder haben. Zu groß ist die Musik, zu fremd. Erst 1850 die öffentliche Uraufführung - und kein Verständnis. Es dauert noch einmal rund 100 Jahre, bis Schuberts radikalstes Werk verstanden wird, diese orchestralen Klangballungen in ihrer sinfonischen Wucht.
Unser heutiger Mitschnitt entstand am 13. Januar 2019 in der Londoner Wigmore Hall, es spielt das Doric String Quartet:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler