Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
Goethes "Faust" hat verschiedene Komponisten zur Vertonung inspiriert - ein Ergebnis unter vielen ist die Faust-Sinfonie von Franz Liszt, die ich Ihnen in der heutigen Ausgabe gerne vorstelle.
"Alles übrige ist purer Dreck.“ - So euphorisch urteilte Richard Strauss nach einer Aufführung von Franz Liszts Faust-Sinfonie. Im Rahmen der berüchtigten Kontroversen, die sich im 19. Jahrhundert rund um die Themen Programmmusik und Absolute Musik drehten, erregte das Lisztsche Werk sowohl positive als auch negative Aufmerksamkeit. Die Dichtung von Goethe lernte der junge Liszt im Jahre 1827 in Paris kennen. Angeregt durch ein Treffen mit dem Komponisten Hector Berlioz, der später berichtet hatte, dass Liszt bald danach sehr für den "Faust" schwärmte, nahm er sich die Lektüre vor. Liszt widmete sein Werk später Berlioz, der zuvor seinerseits seine eigene Faust-Komposition, "La Damnation de Faust", Liszt gewidmet hatte.
Die Entstehung der Faust-Sinfonie ließ allerdings noch einige Jahre auf sich warten. Liszt, der in den folgenden zwei Jahrzehnten vor allem als Klaviervirtuose durch Europa tourte, fand erst Jahre später die Zeit, dieses Projekt zu realisieren. Die Konzeption der Faust-Sinfonie und erste Skizzen entstanden in den 1840er Jahren. Dass es bis zur endgültigen Fertigstellung des Werkes noch einige Jahre dauerte, spricht für den Stellenwert, den Liszt seiner Sinfonie beigemessen hat.
Die Faust-Sinfonie stellt zusammen mit der Dante-Sinfonie eines der Hauptwerke des Komponisten dar. Die Sinfonischen Dichtungen, die in den Jahren vor der Faust-Sinfonie entstanden, dienten nach eigener Aussage Liszts lediglich als "Prolégomènes", als Ein- und Hinleitung zu den beiden größeren Werken. In diesen Stücken entwickelte Liszt sein Verständnis von Programmmusik sowie seine Technik der Motivtransformation, die für die Komposition der Faust-Sinfonie eine sehr zentrale Rolle spielt. Hierbei werden scheinbar heterogene Motive aus denselben melodisch-rhythmischen Grundstrukturen abgeleitet. So zeigt beispielsweise eine Analyse des ersten Satzes sehr eindrucksvoll, dass alle drei Motive, die Liszt im Laufe des Satzes zur Themenbildung heranzieht, auf einem übermäßigen Dreiklang - namentlich c-e-gis - basieren. Darüber hinaus gelingt es dem Komponisten, das komplette motivische Material des Faust-Satzes bereits innerhalb der ersten elf Takte vorzustellen.
In der ersten Fassung der Faust-Sinfonie, die Liszt 1854 fertiggestellt hatte, beinhaltete das Werk noch nicht den abschließenden Chorsatz. Diesen komponierte er erst in den folgenden drei Jahren bis zur Uraufführung. Sie fand am 5. September 1857 anlässlich der Einweihung des Goethe- und Schiller-Denkmals in Weimar statt. In den drei Hauptsätzen widmet sich Liszt jeweils einem der Hauptfiguren aus Goethes Dichtung: Faust, Gretchen und Mephistopheles. Der Finalsatz für Solo-Tenor und Männerchor erinnert unweigerlich an Beethovens neunte Sinfonie. Dieses Konzept verrät bereits, in welcher Art und Weise der Komponist mit dem Faust-Stoff umgeht und welches Ziel er mit der Vertonung verfolgt. Nicht die Handlung steht für Liszt im Vordergrund, sondern die Protagonisten und deren Charakterisierung. Mit dem vollständigen Titel "Eine Faust-Sinfonie in drei Charakterbildern (nach Goethe)" gibt er außerdem den entscheidenden Hinweis, wie sein Werk zu verstehen sei. Es geht ihm um eine Darstellung des Innenlebens der drei Hauptfiguren aus Goethes Dichtung.
Im ersten Satz zeigt Liszt die verschiedenen Charaktereigenschaften Fausts. In den insgesamt fünf Themen dieses Satzes spiegeln sich die grüblerische Seite Fausts, seine Gelehrsamkeit, Leidenschaftlichkeit, Sehnsucht und der Drang nach höherem Wissen, aber auch seine Gottes- und Menschenliebe sowie Stolz, das Großartige und Ewige in seinem Charakter wider. Gretchen hingegen wird von Liszt weniger vielschichtig gezeichnet. Mit Dur-Harmonik und sanglicher Melodik wird ihre Unschuld dargestellt. Im dritten, Mephisto gehörenden Satz, werden die Themen, die vorher Faust zugeordnet waren, grotesk verzerrt und ins Hässliche verkehrt. Ein eigenes Thema gestand Liszt der Figur von Mephisto nicht zu. Der Teufel wird hier vor allem als „der Geist, der stets verneint“ charakterisiert. Die Gretchen-Themen hingegen bleiben unangetastet, denn Mephisto hat keine Macht über sie. Liszt beendet seine Sinfonie wie Goethe den zweiten Teil seiner Dichtung: mit den Worten des Chorus mysticus. Hierbei handelt es sich um eine kurze Zusammenfassung des geistigen Entwicklungsweges, die der Faust-Dichtung zugrunde liegt.
Das Thema der ersten Takte der Faust-Sinfonie ist häufig als das erste Zwölfton-Thema der Musikgeschichte bezeichnet worden. Aufgrund seiner Gestalt - bestehend aus übermäßigen Dreiklängen, die jeweils um einen Halbton nach unten verschoben werden - erklingen tatsächlich alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter. Mit den Regeln der Dodekaphonie, wie sie später von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern eingesetzt wurde, hat Liszts Komposition allerdings natürlich noch nichts zu tun.
Die Faust-Sinfonie, eines der wichtigsten Werke der Musikgeschichte, gehört bis heute zum Standardrepertoire. Während im 19. Jahrhundert zwar nach einem Konzertbesuch noch Aussagen wie von dem Musikkritiker und Verfechter Absoluter Musik Eduard Hanslick zu hören waren, der Liszts Sinfonie als „entsetzliches Flickwerk“, „widerwärtige Musik“ und den Komponisten selbst als einen „verpfuschten Berlioz, der sich für Goethe hält“ bezeichnet hat, veränderte sich diese Situation sicherlich. Die Mehrheit der Hörer dürfte es heutzutage halten wie Richard Strauss: „Doch ich schwatze vielleicht vor lauter Begeisterung Unsinn; jedenfalls war’s herrlich!“
Zwei Mitschnitte empfehle ich Ihnen heute, zunächst vom 26. Juli 1976 aus der Boston Symphony Hall mit Kieth Engen, dem Tanglewood Festival Chorus und dem Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Leonard Bernstein:
Zum Vergleich ein auf den Tag genau 35 Jahre jüngerer Mitschnitt vom 26. Juli 2011 aus der Londoner Royal Albert Hall von den BBC Proms. Liszts Faust-Sinfonie wurde dort mit Marco Jentzsch, dem London Philharmonic Choir, dem London Symphony Chorus und dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vladimir Jurowski aufgeführt:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler