Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
auf unser heutiges Musikstück bin ich vor einigen Monaten wieder gestoßen - und habe sofort beschlossen, es selbst aufzuführen: Am 25. März können Sie Gerald Finzis Kantate "Dies Natalis" um 18 Uhr im Kaiserdom erleben. Zusammen mit Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" ergibt sich ein spannendes Programm zur Passionszeit, das in ungewöhnlicher Weise Leben und Tod gleichermaßen betrachtet. Karten sind unter www.coramclassic.de erhältlich.
Im Gegensatz zu Schuberts berühmten Quartett zählt Finzis Kantate zu den sehr unbekannten Werken. Traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend prägten den britischen Komponisten. Außenseiter von Geburt, Jude mit einem italienischen Vater und einer deutschen Mutter, war er auch als einziges künstlerisch veranlagtes von fünf Geschwistern isoliert in einer verständnislosen Familie. Besessenes Lesen war Gerald Finzi stets Trost. Sein tiefes Verständnis für Dichtung, seine extreme Sensibilität und seine enzyklopädischen Kenntnisse der Literatur trugen später vor allem in Lied- und Chorkompositionen Früchte. Im Alter von sieben Jahren verlor er seinen Vater, kurz darauf drei seiner Geschwister. Als er 17 Jahre alt war, erschütterte ihn die Nachricht vom Tode seines Kompositionslehrers Ernest Farrar, der im 1. Weltkrieg fiel. Der elegische Grundzug und die immer wieder um Kindheit und Jugend kreisende Thematik seines Werkes hängen mit diesen Erlebnissen ursächlich zusammen.
Dies Natalis op. 8 ist weitgehend dem Frühwerk Finzis zuzuordnen. Die Kantate, deren erster, zweiter und fünfter Satz er bereits 1926, im Alter von 25 Jahren, konzipierte und die 1938/39 um zwei weitere Sätze ergänzt vollendet wurde, ist eine der zartesten, innigsten Meditationen über die Kindheit, die die Musik des 20. Jahrhunderts kennt. Grundlage sind vier Texte des Priester Thomas Traherne, eines Vertreters der als „Metaphysische Dichtung“ bekannten Strömung der englischen Barocklyrik des 17. Jahrhunderts. Die Texte beschwören hier Freude und Wunder des Lebens aus der Perspektive eines unschuldigen Kindes und geben sich als erste Gedanken eines Neugeborenen. Mit dieser Kantate hatte Finzi seinen Durchbruch. Fernab der Tendenzen der internationalen Avantgarde schuf er es in einem an Edward Elgar geschulten spätromantischen, gemäßigt modernen Idiom, das man gleich als „typisch britisch“ empfindet und in der Nähe seines Freundes und Förderers Ralph Vaughan Williams verortet: mystisch, lyrisch und zeitlos.
Eine instrumentale Intrada führt in die meditative Grundstimmung ein. Im zweiten Satz, der rezitativischen „Rhapsody“, erlebt sich das Kind als Fremdling, der ein Paradies betritt, in dem er mit viel Freude begrüßt wird. Der dritte Satz „Rapture“ trägt den Untertitel „Danza“ und verleiht überströmender Lebensfreude mit tänzerischen Klängen Ausdruck. Bei der Komposition dieses Satzes ließ sich Finzi unter anderem vom Tanz der Engel auf Sandro Botticellis „Natività mistica“ in der Londoner National Gallery inspirieren. Im vierten Satz, dem Arioso „Wonder“, erlebt das Baby die Wunder der Welt und lenkt den Blick auf das dahinter stehende Göttliche. Im Schlusssatz „The Salutation“, dessen fließende Streicherlinien eine Nähe zu Bach aufweisen und damit das Ganze noch stärker in die geistige Nähe zur Barockkantate rücken, fragt sich das Baby, wie es zu seiner Existenz kommt. Das Neugeborene erlebt sich noch als Fremder und begrüßt die Schöpfung als Geschenk Gottes.
Als Werk für hohe Stimme und Streicher wurde es bei seiner Uraufführung im Jahr 1940 von Elsie Suddaby gesungen, die vom New London String Ensemble unter Maurice Miles begleitet wurde.
Am 25. März wird Michael Pflumm Finzis Kantate gemeinsam mit der Camerata Instrumentale Berlin unter meiner Leitung aufführen. Zum Kennenlernen empfehle ich Ihnen heute gerne den Mitschnitt der Aufführung vom 25. August 2019 in der West Road Concert Hall, die im Rahmen des Cambridge Shakespeare Festivals stattfand. Es musizieren Aidan Coburn und das Cambridge Festival Orchestra unter der Leitung von David Crilly:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen aus Dänemark
Matthias Wengler