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06.11.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 699

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

auch heute die heutige Ausgabe kommt aus organisatorischen Gründen einen Tag früher als üblich zu Ihnen. Angesichts der bevorstehenden Wahlen zum Amt des US-Präsidenten könnte man vielleicht falsche Rückschlüsse auf das heutige Musikstück ziehen, denn ich zähle nicht zu dem Personenkreis, die Parolen wie "Make America Great Again" und "America First" befürworten. Wenn es um Musik geht, bin ich toleranter - und so fällt die Wahl heute auf den Marsch "The Stars and Stripes Forever" von John Philip Sousa, inklusive zweier hochvirtuoser Bearbeitungen.

John Philip Sousa verkörperte das Amerika der vorletzten Jahrhundertwende, mithin eine noch recht unschuldige, von kecker Energie geprägte neue Nation. Dank ihrer schier ununterbrochenen Reisen trug Sousas Band ihre Musik nicht nur in zahlreiche amerikanische Städte, sondern auch in die ganze Welt hinaus, wo die Kapelle zum Repräsentanten der USA wurde.

Der am 6. November 1854 geborene John Philip Sousa erreichte seine hohe Stellung mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Schon 1880 wurde er als 26-jähriger der Dirigent der U.S. Marine Band, die er im Laufe von zwölf Jahren auf ein Niveau erhob, das ihr einen großen Bekanntheitsgrad einbrachte. Zudem erwarb sich Sousa mit seinen Kompositionen die Krone eines „March King“. Noch schneller ging es mit der eigenen Band, die Sousa 1892 formierte und zu Weltruhm führte: Allein in den ersten sieben Jahren nach der Gründung gab Sousa mit seinen Musikern 3.500 Konzerte. Obwohl man damals noch vornehmlich mit der Bahn und dem Schiff reiste, brachte es die Kapelle nach annähernd vier Jahrzehnten auf eine Wegstrecke von bald zwei Millionen Kilometern. In den Jahren 1900, 1901, 1903 und 1905 unternahm man gemeinsame Europatourneen, bevor man 1910 - im Zenit der Blaskapellenzeit - zu einer beinahe zweijährigen Weltreise aufbrach.

Dieses völlig neue Maß an Popularität erlangte Sousas Band zu einer Zeit, als es in den USA noch nicht allzu viele Orchester gab. Vom Bürgerkrieg bis etwa 1920 spielten Blaskapellen im amerikanischen Musikleben eine bedeutende Rolle, doch eine bessere Band als diejenige von John Philip Sousa hatte es noch nicht gegeben. Sousa veränderte den Sound, indem er Blech und Schlagzeug reduzierte, dafür die Holzbläser stärker berücksichtigte und eine Harfe hinzufügte. Aufgrund seines dirigentischen Genies konnte er die besten Spieler gewinnen und ein Ensemble aufbauen, mit dem sich kaum weniger bunte Programme realisieren ließen als mit einem sinfonischen Orchester. Sousas Band wurde zum Maßstab für alle vergleichbaren amerikanischen Ensembles und sorgte in ihrer Heimat für eine ganz erhebliche Steigerung des musikalischen Niveaus.

Doch nicht nur die Band, sondern auch seine eigenen Werke verhalfen Sousa zu immer größerem Ruhm. Märsche wie "The Stars and Stripes Forever", "El Capitan", "Washington Post" und "Semper Fidelis" gelten gemeinhin als die besten Exemplare dieser Gattung. Nach Sousas Worten sollte ein Marsch so sein, „dass ein Mann mit einem Holzbein rüstiger ausschreitet",“ und mit seinen eigenen Stücken hat er das ganz zweifellos erreicht. Zwar ist Sousa die standardisierte Marschform zu verdanken, wie wir sie heute kennen, doch keineswegs war er ein bloßer Marsch-Melodiker: Zu seinen mehr als 200 Werken gehören auch sinfonische Dichtungen, Suiten, Opern und Operetten. Seine instrumentatorischen und farblichen Prinzipien haben viele „klassische“ Komponisten beeinflusst, und mit seinen kernig-patriotischen Operetten trug er in den 1890er Jahren zur Entstehung einer echt amerikanischen Musiktheater-Ästhetik bei.

Außer vielleicht dem "Star Spangled Banner" hat wohl kein Musikstück mehr für das patriotische Empfinden Amerikas getan als "The Stars and Stripes Forever", Sousas populärste Komposition aus dem Jahr 1896, die zum offiziellen Nationalmarsch der USA und zum Symbol des Fahnenschwingens schlechthin wurde. Seit seiner Uraufführung am 14. Mai 1897 in Philadelphia weckt dieses Stück immer wieder mit äußerster Wirksamkeit die patriotischen Gefühle der Amerikaner. Selbst der nüchterne Public Ledger schrieb damals, die Komposition sei „so aufregend, dass sich der amerikanische Adler mit begeisterten Schreien von seinem Felsen erhebt, indessen er seine Pfeile gegen das Nordlicht abschießt". "The Stars and Stripes Forever" hat seinen historischen Platz gefunden. Die Reaktion war überaus lebhaft: Das Publikum erhob sich wie bei der Nationalhymne. So entstand eine Tradition, die Sousa in den Konzerten seiner Band noch zu steigern wusste, indem er beim abschließenden Trio die Kornette, Trompeten, Posaunen und Pikkolos vorn an der Bühne postierte. Viele Kapellen tun das noch bis heute.

Unter musikalischen Gesichtspunkten ist "The Stars and Stripes Forever" auch ohne jede patriotische Nebenbedeutung ein Meisterwerk, doch just der Patriotismus machte es zu dem beliebtesten Marsch aller Zeiten, dessen Popularität sich keineswegs auf die USA beschränkt. Im Ausland galt die Komposition stets als Symbol für Amerika.

Hier zunächst ein Mitschnitt aus dem Sommerkonzert der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Gustavo Dudamel vom 20. Juni 2019 aus dem Schlosspark Schönbrunn:

www.youtube.com/watch

Hier eine Transkription für Klavier solo von Vladimir Horowitz, es spielt Arcadi Volodos:

www.youtube.com/watch

Eine weitere Transkription - diesmal für Orgel - mit Cameron Carpenter, aufgezeichnet in der New Yorker Trinity Church Wall Street am 5. Juli 2007:

www.youtube.com/watch

Und im letzten Mitschnitt für heute dirigiert Schauspieler und UNICEF-Botschafter Danny Kaye die New Yorker Philharmoniker im Lincoln Center, das Konzert aus dem Jahr 1981 war einer seiner letzten Fernsehauftritte:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd