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05.12.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 559

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

es muss nicht immer Georg Friedrich Händels "Messias" oder Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium in Adventskonzerten erklingen - auch wenn wir Bachs wohl beliebtestes Chorwerk in diesem Jahr sehr gerne mit allen sechs Kantaten am 22. und 29. Dezember in Königslutter und Schöppenstedt zur Aufführung bringen. Heute und an den folgenden drei Adventswochenenden soll in dieser Reihe Musik im Mittelpunkt stehen, die nur selten in der Vorweihnachtszeit in unseren Kirchen erklingt. Benjamin Brittens Saint Nicolas op. 42 macht heute den Auftakt

Die Kantate Saint Nicolas, geschrieben für Tenor, Chor und Orchester, entstand für eine schulische Festveranstaltung am Lancing College, Sussex. Die Mittel, die Britten 1948 für diese Kantate zur Verfügung standen, bedingten Struktur und Besetzung der Komposition: ein großer vierstimmiger Schülerchor, ein separater Mädchenchor, ein Amateur-Streichorchester, Schlagwerk, ein Tenorsolist, ein Klavierduo und Orgel. Der klangliche Eindruck, der Britten in dieser Kantate vorschwebte, gründet auf der vorherzusehenden Divergenz eines scharf konturierten Klaviersatzes und präzise akzentuierender Schlaginstrumente - denn für diese hatte Britten neben dem Tenorsolisten jeweils professionelle Musiker vorgesehen - und auf der anderen Seite eines warmen, unvermeidlich wohl auch ein wenig unscharfen Klangcharakters, den ein Laienorchester hervorruft, dem man eine beträchtliche Toleranz an Intonationsgenauigkeit zubilligt. Die Stimmführer des fünfstimmigen Streichersatzes hatten allerdings nach dem Willen Brittens auch hier Berufsmusiker zu sein, denn vor allem die erste Violine, aber auch das Violoncello lösen sich zeitweise solistisch ab. Einkalkulierte Kontraste ergeben sich aber auch aus den geradlinigen, im Anspruch (bis auf wenige Ausnahmen) zurückgenommenen Aufgaben des Chores, und der künstlerischen Profilierung der Solopartie des Tenors.

Sankt Nikolaus, der Schutzpatron der Kinder, Seeleute, Reisenden und - für Brittens Wahl des Stoffes gewiss nicht unerheblich - der Collegestadt Lancing, wird in Brittens Kantate als starke Persönlichkeit gezeichnet. Seine bewegte Lebensgeschichte wird in dem der Komposition zu grundegelegten Text Eric Croziers, der Britten damals für einige Jahre als Librettist eng verbunden war, in neun Abschnitten ausgebreitet. Er beginnt - nach einer Introduktion (Nr. 1) - mit seiner Geburt (Nr. 2) und geht weiter mit seinem Gelübde, sein Leben Gott zu widmen (Nr. 3). Seine Reise nach Palästina (Nr. 4), seine Wahl zum Bischof von Myra (Nr. 5), die Christenverfolgung und seine Jahre in Gefangenschaft (Nr. 6) folgen. Seine selbstlose Zuwendung zu jenen, die in Not sind (Nr. 7), und derer Dank und Preis (Nr. 8) vervollständigen die Betrachtung seines Lebens und Wirkens. Mit seinem Tod (Nr. 9) endet Brittens Werk.

Britten nennt seine Komposition eine Kantate, doch sie trägt, wenn man neben der Partie des Nikolaus auch den Chor in der Rolle handelnder Personen sieht, die Züge eines Oratoriums. Von der musikalischen Struktur her wechseln rezitativische und ariose Abschnitte mit Chorszenen und Chorälen ab, die zum Teil von der Gemeinde mitgesungen werden. Mitunter lag Britten an einer betont wirklichkeitsnahen Darstellung, etwa wenn er Nikolaus noch im zarten Alter eines Kindes (Nr. 2) mit den immer wiederkehrenden Worten "God be glorified!" vom jüngsten Chormitglied gesungen haben wollte. Eine naturalistische Szenerie wiederum wollte er mit der musikalischen Ausmalung der Reise nach Palästina (Nr. 4) nachzeichnen, wenn die beiden Klaviere in ihrem Auf und Ab eine stetige Wellenbewegung oder auch das Eintauchen der Ruder ins Wasser suggerieren. Und auch der aufkommende Sturm und das Abflauen der Winde werden in Brittens Musik deutlich zum Ausdruck gebracht.   

Saint Nicolas wurde zur Hundertjahrfeier des Lancing College in Sussex geschrieben. Das College ist ein unabhängiges Internat an der Südküste Englands, das Brittens langjähriger Lebenspartner Peter Pears als Jugendlicher besucht hatte. Es verfügt über eine riesige Kapelle, die von ihrem Gründer Reverend Nathaniel Woodard als Kirche für alle Schulen seiner umfangreichen Stiftung (die so genannten „Woodard Schools“) gedacht war.

Unser heutiger Konzertmitschnitt entstand am 27. Dezember 2015 in New York mit den Downtown Voices, Steven Wilson (Tenor) und dem Orchestra NOVUS NY unter der Leitung von Stephen Sands in der Trinity Church Wall Street:

www.youtube.com/watch

Wer das Stück live erleben möchte, dem sei die Aufführung meines Braunschweiger Kollegen Hanno Schiefner am 3. Dezember in St. Martini empfohlen:

Sonntag, 3. Dezember 2023, 17:00 Uhr, St. Martini, Braunschweig

Chor- und Orchesterkonzert

Benjamin Britten: Saint Nicolas Cantata
Camille Saint-Saëns: Oratorio de Noël

Michael Connaire, Tenor * Jinkyung Park, Sopran * Julia Fercho, Alt * Friedemann Gottschlich, Bariton
Chor an St. Martini * martiniforte * Orchester

Eintritt: 25 € (erm. 20 €)

Ihnen allen einen schönen 1. Advent mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd