Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
19. September 1998 - der Tag der Uraufführung einer neuen Oper im San Francisco Opera House, entstanden nach einem literarischen Meisterwerk des 20. Jahrhunderts und komponiert von einem der vielseitigsten Musiker des 20. Jahrhunderts: "A Streetcar Named Desire" ("Endstation Sehnsucht") von André Previn. Die heutige Ausgabe ist der Auftakt zu einer Reihe von Opern, die ich Ihnen in den kommenden Wochen jeweils zum Wochenende vorstelle.
Hunderte von Stücken hat der Dirigent und Komponist André Previn bereits arrangiert und in Hollywood Musik für Filme komponiert. Aber eine Oper, das ist Neuland für den Deutsch-Amerikaner. Trotzdem sagt Previn sofort zu, als er einen Anruf aus San Francisco erhält. André Previns Reaktion auf die Frage, ob er nicht Tennessee Williams' Südstaatengeschichte "Endstation Sehnsucht" als Musiktheater bearbeiten wolle, fällt folgendermaßen aus: "'Streetcar Named Desire' war für mich unwiderstehlich. Es ist eines der größten Theaterstücke, die je in Amerika geschrieben worden sind. Und ich habe zugesagt ohne Vertrag: Ja, das möchte ich, das will ich wirklich machen."
Es ist die Geschichte, mit der Marlon Brando 1951 als Kraftprotz Stanley Kowalski in zerrissenem T-Shirt zum Kinostar avancierte: Der ordinäre Stanley lebt mit der ihm sexuell verfallenen Stella in einer heruntergekommenen Zweizimmerwohnung in New Orleans. Als Stellas feinsinnige Schwester Blanche DuBois zu Besuch weilt und die aristokratische Familientradition hochhält, kommt es unweigerlich zu Spannungen - hier der Trailer zum Film:
Anders als im Film steht in André Previns Opernfassung nicht Kowalski, sondern Blanche im Mittelpunkt. Einen Part, den die Sopranistin Renée Fleming bei der Uraufführung übernimmt. Previns dreiaktige Oper zum Text von Tennessee Williams ist eine Mischung aus Filmmusik, Puccini und Jazz, die in Momenten wie der Arie "I want magic" dramaturgische Höhepunkte erreicht - hier ein Mitschnitt dieser Arie mit Renée Fleming und dem Prager Symphonieorchester unter der Leitung von Christian Benda, aufgezeichnet im Prager Rudolfinum:
Der Inhalt: New Orleans. Seit dem Selbstmord ihres homosexuellen Ehemannes ist die Lehrerin Blanche DuBois auf der Suche nach Liebe: Die Aufrechterhaltung ihrer unerfüllten Illusionen, die sich aus einer vornehmen Herkunft nähren, verzehren zunehmend ihre Kräfte. Sie hat alles verloren: Ihr Zuhause, das Familienanwesen "Belle Rêve", ist weg, ihr Job als Lehrerin ist ebenfalls passé. Nur schwer verkraftet sie, was ihr widerfahren ist, der Abstieg in den Alltag der Stadt, weg von ihrem aristokratischen Traum, lässt sie immer labiler werden. Selbstzerstörerisch und mit dem Alkohol als ständigem Begleiter redet sich Blanche ihren Niedergang schön. Ihre letzte Station führt sie in die enge Wohnung ihrer Schwester Stella, in der Hoffnung, wieder Halt in ihrem Leben zu finden. Doch die vitale Stella vermag ihr diesen nicht zu geben. Ihr polnischer Mann, der brutale Macho Stanley Kowalski, durchschaut die Lebenslügen und Ausflüchte seiner Schwägerin. Als er sie - betrunken und angetrieben von Verachtung und Hass - vergewaltigt, bringt dieser Schock die fragile Blanche vollends zum Zusammenbruch. Sie flieht in den Wahnsinn, der zur Endstation ihrer Sehnsucht wird.
Basierend auf Tennessee Williams’ gleichnamigem Drama schuf André Previn mit "A Streetcar Named Desire" ein packendes Werk für die Opernbühne. In seiner ergreifenden Musiksprache bringt er zum Ausdruck, was weder Metapher noch Worte allein zu zeigen vermögen: ein Psychogramm kranker Perversität und Surrealität, mit dem die "Familie" um Blanche DuBois der brutalen Wahrheit ihrer Realität zu entfliehen versucht. Die feinfühlig-psychologische Musiksprache Previns begeisterte bei der Uraufführung 1998 in San Francisco durch ihre eindringliche und genaue Darstellung der verschiedenen Charaktere und fügt damit Williams’ aufwühlendem Schauspiel um Lebenslügen und Lebensangst eine neue Dimension hinzu, die vor allem im dritten Akt eine beklemmende Intensität erreicht.
Sir André Previn, in Europa vor allem als Dirigent und Pianist bekannt, war bei mehr als 50 Filmen als Komponist und Arrangeur beteiligt und wurde viermal mit dem Oscar ausgezeichnet. Für seine erste Oper "A Streetcar Named Desire" griff er auf das gleichnamige Drama von Tennessee Williams zurück, das nach seiner Uraufführung 1947 am New Yorker Broadway 844 Vorstellungen in Folge erlebte und spätestens 1951 durch Elia Kazans Verfilmung mit Vivien Leigh und Marlon Brando in den Hauptrollen zum Klassiker wurde. Nach der Uraufführung am 19. September 1998 in San Francisco wird Previn für sein Debüt als Opernkomponist gefeiert. Der Kritiker Bernard Holland schreibt in der New York Times: "Mr. Previn hat ein feines Ohr für Stimmen. Man hat den Eindruck, er hätte immer schon Opern geschrieben."
Hier der Mitschnitt der Uraufführung im San Francisco Opera House, die Hauptrollen sind mit Renee Fleming (Blanche Dubois), Rodney Gilfry (Stanley Kowalski), Elizabeth Futral (Stella Kowalski), Anthony Dean Griffey (Harold Mitchell), und Judith Forst (Eunice Hubbell) besetzt; Sir André Previn leitet das Orchester des San Francisco Opera House:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee
Matthias Wengler