Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
aktueller geht es kaum - vorgestern war ich beim Eröffnungskonzert des Musikfests Berlin. Aus dem Programm dieses Abends habe ich ein Musikstück für die heutige Ausgabe ausgewählt: "Rendering" für Orchester von Franz Schubert/Luciano Berio.
Luciano Berio, einer der wichtigsten Vertreter der Avantgarde im 20. Jahrhundert, hat sich in seinem Schaffen immer wieder mit der Musik vergangener Epochen auseinandergesetzt. "Musik über Musik" war eines der zentralen Themen seines Œuvres. In "Rendering" für Orchester, entstanden 1989, nutzt er die Skizzen, die Franz Schubert in den Wochen vor seinem Tod zu einer neuen Sinfonie angefertigt hatte, zu einer "Restaurierung", wie Berio sich ausdrückte. Es ging ihm nicht um eine vermeintliche Rekonstruktion oder Vervollständigung dieser Sinfonie, sondern er komponierte die erhaltenen Entwürfe weiter, indem er die fragmentarischen Skizzen durch ein sich ständig wandelndes musikalisches Gewebe miteinander verband. Der Torso-Charakter der nie vollendeten Partitur Schuberts sollte nicht übermalt, sondern im Gegenteil bewusst hörbar gemacht werden. Das Ergebnis ist originaler Schubert und originaler Berio.
Das Werk entstand 1988/89 für das Concertgebouworkest Amsterdam und wurde unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt am 14. Juni 1989 uraufgeführt. Berio schreibt über seine Arbeit an Rendering:
In den letzten Wochen seines Lebens fertigte Franz Schubert vielerlei Skizzen zu einer Zehnten Symphonie in D-Dur (D 936a) an. Diese Entwürfe sind ziemlich komplex und von vollendeter Schönheit. Es sind dies weitere deutliche Hinweise für Schuberts Entwicklung, welche vom Einfluss Beethovens wegführt. "Rendering" mit seiner zweifachen Autorenschaft soll eine Restaurierung dieser Skizzen sein, keine Vollendung oder Rekonstruktion. Diese Restaurierung folgt den Richtlinien einer modernen Freskorestaurierung, die auf eine Auffrischung der alten Farben abzielt, ohne die durch die Jahrhunderte entstandenen Schäden kaschieren zu wollen, wobei sogar leere Flecken im Gesamtbild zurückbleiben können (wie etwa im Falle Giotto in Assisi).
Gelegentlich finden sich in den Entwürfen, welche hauptsächlich in Form eines Klaviersystems notiert sind, auch Instrumentationshinweise. Diese sind jedoch meist in Kurzschrift geschrieben und mussten vor allem in den mittleren und unteren Stimmen ergänzt werden. Die Orchestrierung folgt jener der "Unvollendeten", aber während die offensichtlich Schubert’schen Klangfarben erhalten blieben, zeigen sich in der musikalischen Entwicklung der Komposition Episoden, die sich an Mendelssohn anzunähern scheinen, und die Orchestrierung möchte dies widerspiegeln. Darüber hinaus lässt die Expressivität des zweiten Satzes aufhorchen, welchem der Geist Mahlers innezuwohnen scheint.
Die Skizzen sind durch ein sich ständig wandelndes musikalisches Gewebe verbunden, immer „pianissimo” und „fern”, untermischt mit Anklängen an das Spätwerk Schuberts (die Klaviersonate B-Dur, das Klaviertrio B-Dur usw.) und durchsetzt mit polyphonen Passagen aus Fragmenten derselben Skizzen. Dieser musikalische „Zement” bildet den fehlenden Zusammenhang und füllt die Lücken zwischen den einzelnen Entwürfen. Er wird stets durch Celestaklänge angezeigt und soll „quasi senza suono” und ohne Ausdruck gespielt werden.
Während der letzten Tage seines Lebens nahm Schubert Unterricht in Kontrapunkt. Notenpapier war teuer, und dies könnte der Grund dafür sein, dass sich unter den Skizzen zur Zehnten Symphonie eine kurze, einfache Kontrapunktübung findet (ein Kanon in Gegenbewegung). Diese wurde ebenfalls instrumentiert und dem Andante eingegliedert.
Das beschließende Allegro ist gleichermaßen beeindruckend und der wohl polyphonste Orchestersatz, den Schubert jemals komponiert hat. Diese letzten Entwürfe sind trotz ihres sehr fragmentarischen Zustandes von hoher Homogenität und zeugen von Schuberts Versuchen, ein und dasselbe thematische Material auf verschiedene Art und Weise kontrapunktisch zu verarbeiten. Diese Skizzen zeigen abwechselnd den Charakter eines Scherzos und eines Finales. Diese Zweideutigkeit (welche Schubert wahrscheinlich in einer neuartigen Weise gelöst oder aber verschärft hätte) war von besonderem Interesse: der musikalische „Zement” soll neben anderen Besonderheiten eben diese Doppelbödigkeit strukturell hervorheben.
Zurück zum vergangenen Samstag - das Eröffnungskonzert beim Musikfest Berlin in der Philharmonie bestritt das Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. Das Orchester befindet sich zur Zeit auf einer Europa-Tournee und spielte am 23. August 2025 im Rahmen der BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall - das vollständige Konzert können Sie im folgenden Link sehen. Das Programm:
Franz Schubert/Luciano Berio: "Rendering" für Orchester
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5
Zum Vergleich eine Aufführung mit dem Komponisten am Pult - Luciano Berio dirigierte am 8. Mai 1992 das Orchestra Alessando Scarlatti di Napoli della RAI im Auditorium D.Scarlatti RAI in Napoli, es war zugleich die italienische Erstaufführung dieses Werks:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler