Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute erwartet Sie eines der längsten und schwierigsten Klavierkonzerte der Romantik: Das Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83 von Johannes Brahms.
Das Komponist:innen-Leben stellt man sich oft vor wie eine fortwährende Mischung aus Urlaub und konzentrierter Klausur. Einerseits deckt sich dies mit der Realität: Bekannt ist nicht nur für Johannes Brahms, dass er sich in Sommerrefugien zurückzog, um ungestört vom Wiener Stadttrubel der Inspiration freien Lauf zu lassen. Am Ende dieser intensiven Phase des Komponierens steht dann oft der Ertrag einer oder gar mehrerer Kompositionen. So auch beim zweitem Klavierkonzert, das er im Sommer 1881 im niederösterreichischen Pressbaum fertigstellte, nachdem er es im Jahr zuvor in Bad Ischl skizziert hatte. Üblicherweise vermerken Programmhefttexte dann noch den Weg zur Uraufführung, nämlich meist den ein oder anderen Brief an Freund:innen oder Verleger schon während der Entstehung, dann die Rückkehr aus der Sommerfrische und schließlich das erste öffentliche Präsentieren des neuen Werks. Im Wesentlichen ist dies auch beim zweiten Brahms-Konzert so.
„Hier schicke ich Dir ein paar kleine Klavierstücke … falls sie Dich interessieren und Du Dir aus den gar zu flüchtig gezogenen Strichen ein Bild machen kannst, so sagst Du vielleicht ein Wort …“, schreibt Brahms 1881 an seinen Freund Theodor Billroth, den berühmten Wiener Arzt und Chirurgen. Dieser - ein exzellenter Klavierspieler - antwortet noch am selben Tag: „… da haben wir es nun endlich, das lang erwünschte zweite Klavierkonzert! Welch ein herrliches Stück, wie mühelos hinfließend … so musikalische Musik! Eine glücklich befriedigte und befriedigende Stimmung durchströmt das Ganze … zum ersten Konzert verhält es sich wie der Mann zum Jüngling. Unverkennbar derselbe, und doch alles gedrungener, reifer.“
Die extreme Untertreibung in Brahms Brief verrät die Sicherheit des Meisters, die spontane Begeisterung Billroths zeigt die unmittelbare Verständlichkeit des Werkes - hier stimmt einfach alles: Klavierpart, Orchestration, Form. Dabei ist das Konzert lang, es hat - zum ersten Mal in der Literatur - vier Sätze. Wäre der vierte Satz ein ausgewachsenes Finale, so geriete das Konzert zu einem Monstrum. Hier aber ist der erste Satz gewichtig, die drei folgenden Sätze sind weniger gewichtige Charakterstücke: dämonisch, lyrisch, tänzerisch (Trompeten und Pauken sind nach dem zweiten Satz fertig).
Unvergesslich ist der Anfang des ersten Satzes mit dem Eichendorff’schen Hornsolo, besonders schön dessen Wiederauftauchen aus dunklen Klangstrudeln in der Reprise. Packend ist die dramatische Zuspitzung am Ende des zweiten Satzes. Im dritten Satz spielt Brahms auf eigene Lieder an: „Immer leiser wird mein Schlummer“ (Violoncello-Solo), „Es träumte mir, ich sei dir teuer“ (Klarinetten), „Ätherische, ferne Stimmen“ (Klavier). Alle drei Lieder zeigen einen Mann mit schimmernden Augen und Silbersträhnen im Bart. Zum vierten Satz passt Brahms Lieblingsausdruck „behaglich“ - was nicht immer für den Pianisten gilt, wohl aber für den Hörer.
Bei seinen Überlegungen, wie und wo er das Konzert erstmals öffentlich spielen könnte, kommt Brahms ein Angebot Hans von Bülow äußerst gelegen. Der Pianist und Dirigent war im Jahr zuvor Hofmusikintendant in Meiningen geworden, wo es ein phänomenales Orchester gab. Brahms spielte das neue Konzert dort intensiv mit Bülow und seinen Musikern durch und konnte so direkt viele Passagen korrigieren. Für die Uraufführung war allerdings Budapest vorgesehen, und was sich an diesen 9. November 1881 anschloss, relativiert das Bild vom einsamen Schreibtischleben des Komponisten Brahms. Bis Ende Januar reiste er quer durch Nordeuropa und spielte das Konzert als Solist insgesamt 14 Mal, darunter in Zürich, Straßburg, Breslau, Berlin, Hamburg und Amsterdam - bei den damals langen und unbequemen Reisewegen eine kräftezehrende Strapaze.
Der Musikkritiker Eduard Hanslick nannte das Konzert mit einigem Recht eine "viersätzige Symphonie mit obligatem Klavier". Und mit rund 50 Minuten Spieldauer erreicht es allemal die Länge einer Sinfonie.
Heute habe ich für Sie eine ganze Reihe von Konzertmitschnitten zusammengestellt, einige Interpreten sind mehrfach vertreten - und bei den letzten beiden Mitschnitten durfte ich als Zuhörer im Saal dabei sein. Hier zunächst Maurizio Pollini mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Claudio Abbado, aufgezeichnet 1977 im Wiener Musikverein:
Rund 35 Jahre später: Im Januar 2013 entstand Mitschnitt mit Maurizio Pollini und der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Christian Thielemann in der Dresdner Semperoper:
Krystian Zimerman mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet 1984 im Wiener Musikverein:
Ein paar Probeneindrücke mit Krystian Zimerman und Leonard Bernstein sind im folgenden Link zu sehen:
András Schiff mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Kirill Petrenko, aufgezeichnet am 12. Februar 2022 in der Berliner Philharmonie:
Und zum Schluss noch drei Mitschnitte mit Daniel Barenboim, hier zunächst mit den Münchner Philharmonikern unter der Leitung von Sergiu Celibidache, aufgezeichnet 1991 in der Münchner Philharmonie im Gasteig:
Mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Claudio Abbado musizierte Daniel Barenboim am 17. November 1994 in der Berliner Philharmonie:
Und zum Schluss: Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Gustavo Dudamel, aufgezeichnet im September 2014 in der Berliner Philharmonie:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler