Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
in den Konzertsälen und Opernhäusern beginnt in diesen Tagen gerade die neue Saison - hier stelle ich Ihnen heute das Werk vor, das mich zum Ende der letzten Saison im Juli in der Berliner Staatsoper Unter den Linden wieder einmal sehr begeistert hat: Die Oper "Don Carlo" von Giuseppe Verdi.
Es war Verdis vierte Arbeit für die französische Hauptstadt und zugleich seine vierte nach einer Vorlage von Friedrich Schiller. Dessen Theaterstücke hatten es ihm schon früh angetan und ihn nicht mehr losgelassen, seit er 1845 für das Teatro alla Scala das Libretto „Giovanna d’Arco“ vertont hatte, später folgten noch "I Masnadieri" und "Luisa Miller". Die feurige Mischung aus politischer Freiheitsbewegung, Intrigen, Freundschaft und verbotener Liebe, die Schillers „Don Carlos“ bot, begeisterten den Komponisten sofort. Weniger angetan war er indessen vom Auftraggeber, der Pariser Oper, die zur Feier der Weltausstellung im Jahr 1867 ein neues Werk bestellt hatte. In einem Brief hielt er fest: „Für die "Opéra" komponieren, bei den Allüren einer Frau Meyerbeer, die ihre Broschen, Armbänder, Medaillons, Tabakdosen, Kommandostäbe etc. zur Schau stellt. Eine reizende Vorstellung!“
Die Tradition der Grand Opéra verlangte natürlich auch nach einer Balletteinlage. Verdi konnte sich mit dieser französischen Tradition nie recht anfreunden, so wurde das Ballett dann auch schon zusammen mit einigen anderen - wichtigen! - Szenen vor der Uraufführung gestrichen. Das Libretto musste ebenfalls dem Pariser Geschmack entsprechend eingerichtet werden - also in französischer Sprache, in fünf Akten und mit einem in die Handlung integrierten Ballett zu Beginn des dritten Aktes. Diese formale Anlage war ein Erbe Meyerbeers und gegen Verdis musikdramatische Intentionen. Und als ob die Sterne nicht schon ungünstig genug gestanden hätten, verstarb auch noch der beauftragte Librettist Joseph Méry, bevor er die Arbeit am Text beenden konnte. Camille du Locle stellte das Libretto an seiner Stelle fertig und 1866 begann Verdi mit der Komposition seiner umfangreichsten Oper.
Schon vor der Generalprobe am 24. Februar 1867 kollidierte Verdis riesige Partitur dann leider mit der Bühnenrealität. So musste er den Trauergesang von König Philipp II. zum Tod des Marquis Posa streichen, weil der Sänger sich weigerte, für die Dauer der Nummer eine Leiche spielend am Boden zu liegen. Außerdem verwies man Verdi auf die hiesigen Zugfahrpläne: Weil die letzten Züge in die Vororte kurz nach Mitternacht abfuhren, sollte eine Vorstellung auch nicht länger dauern. Früher anzufangen war aber genauso wenig eine Option, weil sich das Publikum sonst beim Abendessen hätte übereilen müssen.
Es folgte eine scheinbar endlose Geschichte der Überarbeitung: Weil die für die Generalprobe ausgeführten Streichungen nicht ausreichend waren, das Werk auf die gewünschte Länge zu bringen, musste Verdi schon für die Uraufführung eine dritte Fassung seines Werkes vorlegen. Und weil dieser leider nur ein mäßiger Erfolg beschieden war, spielte man bei der zweiten Pariser Aufführung am 13. März eine vierte Fassung. Auch von dieser ließ sich das Publikum aber leider nicht nachdrücklich begeistern. Um sein Werk doch noch auf den europäischen Bühnen zu etablieren, überarbeitete Verdi seinen „Don Carlo” mehrfach, und so liegen insgesamt sieben Fassungen vor. Die letzte wurde zwanzig Jahre nach der Pariser Uraufführung im Dezember 1886 in Modena aus der Taufe gehoben.
Heute zählt „Don Carlo“ zu Verdis meistgespielten Opern, und er selbst war auch von Anfang an von seinem Werk überzeugt. Insgesamt gesehen liegt seine hauptsächliche Leistung darin, dass er sich von der etablierten formalen Anlage der Oper löst. An die Stelle der traditionellen Arien setzte er Lied- und Strophenformen, komponierte außerdem Romanzen und Balladen. Nicht nur deshalb war „Don Carlo“ eigentlich von Anfang an ein Unikat und stellt einen Höhepunkt in seinem reichhaltigen Schaffen dar - eine Oper, bei der das Politische auf unausweichliche Art mit dem persönlichen Schicksal der Betroffenen verstrickt ist. In großangelegten Szenen gelingt es Verdi, tief in die Seelen und Charaktere der Protagonisten einzudringen, was zu erschütternden, aufrüttelnden musikalischen Momenten und tief bewegender Anteilnahme am tragischen Schicksal aller Involvierten führt. Herausragend sind die psychologisch spannend gebauten, reigenartigen Duette (Elisabeth-Carlo, Carlo-Rodrigo, Rodrigo-Philipp, Philipp-Grossinquisitor). Wie Schiller ging es Verdi nicht um historische Genauigkeit, sondern um beispielhafte Schilderung menschlicher und politischer Konflikte. Ansonsten ist die Musik für Verdi ungewöhnlich düster und voller melancholischer Klangfarben, wie man sie in solcher Dichte in keinem anderen Bühnenwerk von ihm findet. Und womöglich hat genau das zur heutigen Beliebtheit des Werkes beigetragen.
Der Inhalt in Kurzform, ausführlich dann wie immer an Ende dieser Ausgabe: Er gebietet über ein Weltreich, und ist dabei doch ein zutiefst Verunsicherter - Philipp II. von Spanien ist nicht nur von Sorge um seine Herrschaft erfüllt, sondern fühlt sich auch von seiner Gattin Elisabeth von Valois, die seinen Sohn Carlo liebt und von diesem geliebt wird, betrogen und im Stich gelassen. Und über allem liegt der bedrohliche Schatten der Inquisition. Vergebens sucht er nach Vertrauen in dieser abweisenden Welt. Intrigen werden gesponnen, es wird einander belogen und getäuscht - zuweilen aber bricht auch Licht ins Dunkel, wenn Freundschaft und Liebe beschworen werden, mit bezwingender Kraft und Ehrlichkeit. Verdis universales Welten- und Familiendrama ist eine Oper der großen Staatsakte wie der großen Emotionen, mit theatralischer Intensität und inspirierter Musik.
Heute erwartet Sie zunächst ein Mitschnitt der Salzburger Osterfestspiele aus dem Jahr 1986 - mit einer heute schon fast legendären Besetzung in den Hauptpartien: Ferrucio Furlanetto (Philipp II., König von Spanien), José Carreras (Don Carlo), Piero Cappuccilli (Rodrigo, Marquis von Posa), Fiamma Izzo D'Amico (Elisabeth von Valois), Agnes Baltsa (Prinzessin Eboli), Matti Salminen (Großinquisitor), Franco de Grandis (Mönch/Karl V.), Antonella Bandelli (Tebaldo, Stimme im Himmel), Chor der Bulgarischen Nationaloper Sofia, Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Salzburger Konzertchor und die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan, der auch für die Inszenierung verantwortlich war:
Zum Vergleich: Die Inszenierung von John Dexter, aufgezeichnet 1983 in der New Yorker Metropolitan Opera - und auch hier darf man von einer Traumbesetzung sprechen: Plácido Domingo (Don Carlo), Mirella Freni (Elisabeth von Valois), Grace Bumbry (Prinzessin Eboli), Nicolai Ghiaurov Philipp II., König von Spanien), Louis Quilico (Rodrigo, Marquis von Posa), Ferruccio Furlanetto (Großinquisitor) sowie Chor und Orchester der Metropolitan Opera unter der Leitung von James Levine:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Handlung der vieraktigen Fassung
Erster Akt
Don Carlo erinnert sich an glückliche Tage in Frankreich. Hier hatte er die französische Prinzessin Elisabeth kennen und lieben gelernt, die seine Frau werden sollte. Aus politischen Gründen aber wurde die Ehe zwischen Elisabeth von Valois und dem Vater von Carlo, dem spanischen König Philipp II. geschlossen. Ein Mönch, in dem Carlos seinen Großvater Karl V. zu erkennen glaubt, verspricht ihm Trost im Jenseits.
Marquis von Posa, ein Jugendfreund Carlos, fordert ihn auf, sich für die unterdrückten Niederlande einzusetzen. Carlo, ganz vom Gefühl seiner unglücklichen Liebe erfüllt, zeigt jedoch kein Interesse. Er gesteht Posa, dass er seine Stiefmutter liebe. Posa ist zunächst entsetzt und rät Carlo, gerade wegen seiner unerfüllten Liebe den Hof zu verlassen und das flandrische Heer anzuführen. Beide schwören, gemeinsam für die Freiheit zu kämpfen.
Prinzessin Eboli singt die Ballade einer verschleierten Frau, um die der maurische König wirbt.
Posa sucht Elisabeth auf und übergibt ihr einen Brief, der angeblich von ihrer Mutter stammt. Dabei überreicht er ihr unauffällig ein Schreiben von Carlo. Eboli missversteht die Äußerungen Posas und denkt, dass Carlo in sie verliebt sei.
Bei ihrem Wiedersehen verspricht Elisabeth Carlo, ihn in seinen politischen Plänen zu unterstützen. Selbstvergessen gibt sich Carlo seinen Gefühlen hin.
Philipp trifft seine Gattin ohne Begleitung an. Er schickt die Gräfin von Aremberg wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht zurück nach Frankreich. Elisabeths Trauer darüber nimmt er nicht ernst.
Philipp nimmt den Marquis von Posa zur Seite. Dieser ist dem König aufgefallen, weil er als Einziger nicht versucht hat, sich bei ihm einzuschmeicheln. Posa wagt ein offenes Wort und bittet um Frieden und Freiheit für Flandern. Auch wenn Philipp das als Schwärmerei zurückweist, ist er berührt von Posas Aufrichtigkeit. Philipp verspricht Posa, ihn nicht zur Rechenschaft zu ziehen, warnt ihn aber vor dem Großinquisitor. Er zieht ihn ins Vertrauen und trägt ihm auf, Elisabeth und Carlo zu bespitzeln, die er einer geheimen Leidenschaft verdächtigt.
Zweiter Akt
Carlo erhält eine anonyme Einladung zu einem Rendezvous. Zu spät erkennt er, dass nicht Elisabeth, sondern Prinzessin Eboli am Treffpunkt erschienen ist, die begreift, dass er nicht sie, sondern die Königin liebt. Posa tritt dazwischen und versucht, die Situation als Missverständnis herunterzuspielen. Doch Eboli lässt sich nicht beruhigen und wird dadurch zu einer Gefahr für Carlo.
Posa rät Carlo, ihm alle Dokumente auszuhändigen, die auf seine Beteiligung an der geplanten Befreiung Flanderns hinweisen. Carlo zögert, weil er von der Freundschaft zwischen Posa und seinem Vater erfahren hat. Schließlich fasst er aber doch erneut Vertrauen, und sie schwören einander Treue.
Während des Autodafés, einer öffentlichen Hinrichtung von Ketzern, bittet Carlo zusammen mit sechs Deputierten aus Flandern um Frieden und Freiheit für die Provinz. Als Philipp die Bitte seines Sohnes ablehnt, ihm Flandern zu überlassen, bedroht Carlos seinen Vater. Posa ist der Einzige, der Philipp zur Hilfe kommt, und wird dafür von diesem zum Herzog ernannt. Carlo wird inhaftiert und das Autodafé beginnt.
Dritter Akt
Philipp quält der Gedanke, dass Elisabeth ihn nie geliebt hat. Unsicher, wie er mit Carlo verfahren soll, zieht er den Großinquisitor zu Rate. Dieser sichert ihm Absolution für den Mord an seinem Sohn zu. Er fordert aber gleichzeitig, Posa der Inquisition zu übergeben. Vergeblich versucht Philipp dagegen aufzubegehren.
Elisabeth beklagt sich bei Philipp, dass ihre Schmuckschatulle gestohlen worden sei. Philipp, der die Schatulle hat, bezichtigt sie des Ehebruchs, weil er ein Bild Carlos darin findet. Während Eboli ihren Fehler erkennt, wird Posa klar, dass er nun handeln muss.
Als Elisabeth mit Prinzessin Eboli alleine ist, gesteht die Prinzessin, aus Eifersucht die Schatulle gestohlen zu haben. Mehr noch: Sie offenbart, die Geliebte des Königs zu sein. Elisabeth stellt sie vor die Wahl zwischen Exil und Kloster. Eboli bereut ihre Tat.
Posa sucht Carlo im Gefängnis auf. Als er berichtet, dass die gefährlichen Papiere bei ihm gefunden worden seien und er nun kurz vor der Inhaftierung stehe, erkennt Carlo die guten Absichten des Freundes. Beide schwören auf ihr politisches Ideal: die Befreiung Flanderns. Es fällt ein Schuss und Posa ist tödlich verwundet. Sterbend berichtet er, dass Elisabeth auf Carlo warte.
Philipp will seinem Sohn vergeben, doch Carlo weist ihn zurück. Philipp erkennt seine Schuld am Tod Posas. Das Volk, von Eboli aufgewiegelt, will Carlo befreien. Der Tumult löst sich auf, als der Großinquisitor erscheint und dem Volk befiehlt, vor Gott und dem König niederzuknien.
Vierter Akt
Während Elisabeth für ihren inneren Frieden betet, kommt Carlo zu ihr. Beiden ist klar, dass die Zeit für eine mögliche Liebe abgelaufen ist. Carlo will nach Flandern gehen und wird in seinen Plänen von Elisabeth bestärkt. Sie verabschiedet sich von ihm.
Philipp erscheint in Begleitung des Großinquisitors. Während Philipp Elisabeth zur Rechenschaft zieht, überlässt er seinen Sohn der Gewalt des Großinquisitors.
