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01.10.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 833

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

Kammermusik aus Russland steht heute auf dem Programm: Die Cellosonate C-Dur op. 119 von Sergej Prokofjew.

Die Jahre stalinistischen Terrors in der Sowjetunion riefen regelmäßig kulturelle „Säuberungsaktionen“ hervor. Auch Sergej Prokofjew gerät ins Visier. Stalins Kultursprecher Andrei Zhdanov leitet auch die letzte dieser Maßnahmen im Jahr 1948. Die sogenannte Zhdanov-Doktrin besagt in Kürze, dass der einzig denkbar darzustellende Konflikt in sowjetischer Kunst jener sei zwischen „dem Guten und dem Besten“. Theoretisch bedeutet das, dass man sich in allen kreativen Fragen eng an die Parteilinie zu halten habe. Praktisch bedeutet es, dass zwei Denunziationen ausreichen, um kreativ kaltgestellt zu werden. Der Vorwurf des „Formalismus“ kann Aufführungsverbote und willkürliche Repressionen gegen ganze Familien auslösen.

Während einer der endlosen Konferenzen, bei denen Komponisten gezwungen werden, sich offiziell für ihre Produktionen zu entschuldigen, erfährt der angststarre Prokofjew, dass seine erste Frau Lina wegen des Verdachts der Spionage verhaftet worden ist. Die erfundenen Anschuldigungen bringen sie für acht Jahre ins Arbeitslager. Prokofjew wird ihre Entlassung nicht mehr erleben. Er stirbt 1953 am selben Tag wie Stalin.

Persönlich befindet sich Prokofjew 1949 also in einer tiefen Krise. Äußerlich allerdings kaschiert er seine Ängste in der Cellosonate op. 119 wirkungsvoll und doppelbödig. Manche Passage wirkt im Mittelsatz fast übertrieben heiter und volkstümlich, ein überdrehtes Zugeständnis an die kommunistischen Sittenwächter.
Den letzten virtuosen Schliff erhält die Sonate auch durch den jungen Widmungsträger Mstislaw Rostropowitsch, der Prokofjew als 20-Jähriger, bei einem Moskauer Konzert im Jahr 1947 extrem beeindruckt hatte. Im Juni 1949 ist das Werk fertig; es bleibt nicht viel Zeit zum Proben, denn es wird noch im selben Monat vor dem Staatlichen Komitee für Kunstangelegenheiten aufgeführt.

Sviatoslav Richter, Pianist der etwas absurd anmutenden Premiere, erinnerte sich später: "Bevor wir sie im Konzert spielen konnten, mussten wir sie im Komponistenverband aufführen, wo diese Herren über das Schicksal aller neuen Werke entschieden. In dieser Zeit mussten sie vor allem herausfinden, ob Prokofjew ein neues Meisterwerk oder ein „volksfeindliches“ Werk geschaffen hatte. Drei Monate später mussten wir es auf einer Plenarsitzung aller Komponisten, die im Rundfunkkomitee saßen, erneut spielen, und erst im folgenden Jahr konnten wir es öffentlich aufführen. Am 1. März 1950 im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums."

Im ersten Satz folgt auf die lyrischen Schönheiten der langsamen Einleitung ein kraftvolles Moderato animato, das die Themen des Anfangs verwandelt und mit neuen leidenschaftlichen Gedanken kontrastiert. Die Reprise des Hauptthemas in der Grundtonart tritt ebenso klar hervor wie die des Seitenthemas.

Geradezu demonstrativ volkstümlich eröffnet das Klavier den Mittelsatz: mit einem russischen Volkstanz in eigenwillig verschobenen Rhythmen. Der Cellist zupft die Saiten, als spiele er auf einer Domra. Später steuert er Springbogen-Effekte zum clownesken Genrebild bei, das an den Prokofjew der großen Ballettmusiken erinnert. Erst im lyrischen Mittelteil, einem Andante dolce, übernimmt das Cello wieder die Führung – mit einer der schönsten Kantilenen, die jemals für das Instrument geschrieben wurden.

Das Finale treibt die Doppelbödigkeit auf die Spitze: Zu Beginn herrscht schönes Cantabile in C-Dur, dann bestimmen plötzlich stählerne Marschrhythmen das Bild. Der Gesang des Cellos wirkt weich und traurig, die Tanzrhythmen des Klaviers erscheinen wie Volksmusik-Zitate aus der Ferne. Dass ausgerechnet dieser disparate Satz am Ende in ein gleißend helles Fortissimo in C-Dur mündet, wirkt über-emphatisch. Prokofjew hat sich den Optimismus, den das Nachkriegs-Russland von ihm forderte, nur mühsam abgerungen. Die Cellostimme der Sonate konnte er überhaupt nur vollenden, weil ihm Rostropowitsch mit Rat und Tat zur Seite stand.

Ob nun von der damaligen sowjetischen Staatspolitik diktiert oder nicht, die Einfachheit der Sonate ist von größter Bedeutung. Die schroffen dissonanten Techniken, die in seinen Werken oft so aufregend hervorstechen, sind verschwunden, Harmonie, Rhythmus und die Satzangaben sind durchsichtig und direkt in der Aussage. Die offizielle Uraufführung von Prokofjews Cellosonate fand am 1. März 1950 im Moskauer Konservatorium statt: Mstislaw Rostropowitsch spielte den Solopart, am Klavier saß Swjatoslaw Richter. Der Komponist Nikolai Mjaskowski schrieb danach begeistert: "... ein unglaubliches, erstklassiges Werk".

Zwei Konzertmitschnitte empfehle ich Ihnen heute, zunächst mit Sol Gabetta und Polina Leschenko, aufgezeichnet am 29. Mai 2016 im Rahmen des Solsberg Festival 2016 in der Klosterkirche Olsberg:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Edgar und Jérémie Moreau mit ihrem Beitrag beim Week-End Musical de Pully vom 7. Mai 2021:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd