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23.08.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 670

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

vielen Musikliebhabern mag es ebenso ergangen sein wie mir: Als ich unser heutiges Musikstück zum ersten Mal hörte, empfand ich es als riesigen Koloss, unglaublich schwer, beinahe bedrückend - und bei der Einleitung kann man durchaus als ungeübter Hörer Angstzustände bekommen. Die Rede ist von Johannes Brahms' Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15. Bei Zeitgenossen fiel es zunächst durch - inzwischen zählt es zu den Klassikern seiner Gattung, und ich selbst habe auch längst meinen Frieden mit diesem Werk geschlossen.

Johannes Brahms hat noch wenig Erfahrung mit Orchesterwerken und gleichzeitig ein schweres Erbe: Wie kann man nach Beethoven noch Sinfonien schreiben? Insbesondere die Neunte mit dem großen Chorfinale scheint die Messlatte unerreichbar hoch zu legen. Noch als fast 40-jähriger schreibt Brahms an den Dirigenten Hermann Levi: „Ich werde nie eine Sinfonie komponieren. Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört.“ Der erste Entwurf zu einer Sinfonie ist damals schon über 15 Jahre alt. 1854 möchte der Komponist eine heute verschollene Sonate für zwei Klaviere instrumentieren. Nach zähem Ringen und zahlreichen Änderungen wird aus diesem Projekt jedoch sein erstes Klavierkonzert.

Formal gesehen ist an diesem Werk zunächst nichts Ungewöhnliches. Die klassische Dreisätzigkeit gliedert sich in einen Kopfsatz, der etwa so viel Spielzeit einnimmt wie die beiden anderen zusammen. Der Kopfsatz steht in Sonatenform mit zwei kontrastierenden Themen, das Adagio ist ein weitgehend schlichter, liedartiger Gesang, und als Finale folgt ein Rondo. Das alles ist auch bei Beethoven und Mozart üblich.

Doch was für einen Koloss hat Brahms da hinterlassen? Neben der gewaltigen Dimension mit einer Spielzeit von fast 50 Minuten gilt es für den Pianisten, hohe technische Anforderungen zu bewältigen, ohne dabei als Solist glänzen zu können, denn Brahms verzichtet auf jede oberflächliche Virtuosität. Außerdem gibt es lange Passagen, in denen entweder das Klavier das Orchester begleitet statt andersherum, oder das Orchester sogar allein spielt. Dazu kommt eine gewissen Schwere im Kopfsatz, die nicht nur von dem eher bremsenden als vorwärts drängenden 6/4-Takt herrührt, sondern auch von der musikalischen Wucht, ja fast Sperrigkeit des Hauptthemas, das auch den größten Teil der Durchführung bestimmt. Nur das Seitenthema schlägt andere Töne an.

Das Adagio steht mit seiner Innigkeit in deutlichem Kontrast dazu. Nur zwei Episoden unterbrechen den ruhigen Fluss. Ursprünglich trägt es die lateinische Überschrift „Benedictus qui venit in nomine Domine“ ("Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn"), dem Mittelteil aus dem Sanctus der lateinischen Messe. Manche sehen hierin eine Hommage an und eine Art von Gebet für den vor kurzem verstorbenen Robert Schumann. Das ungarisch angehauchte Rondo mit seiner kräftigen Synkope zu Beginn bringt neben zwei lyrischen Zwischenspielen auch zwei Fugatoteile. Sie zeigen das bei Brahms schon früh ausgeprägte Interesse für barocke Formen, ein zu seiner Zeit durchaus ungewöhnliches Hobby.

Insgesamt ist es nicht verwunderlich, dass das Konzert zunächst nicht gut ankommt. Brahms’ Freund, der Geiger Joseph Joachim, leitete am 22. Januar 1859 die Uraufführung in Hannover mit dem Hoforchester und berichtet zwar positiv, die Breitenrezeption beginnt aber erst mit der Aufführung in Leipzig fünf Tage später, wo das Konzert vollkommen durchfällt. Das Publikum erwartete ein klassisches Solisten-Konzert und bekam eine Art Sinfonie (nur ohne Scherzo) mit einem Flügel im Zentrum.
Brahms’ Stil mit seinen komplexen Strukturen, der möglichst ausgeglichenen Behandlung aller Instrumente und damit die teilweise Unterordnung des Soloparts, demgegenüber die Herausstellung solistischer Holzbläser braucht seine Zeit, um Anerkennung zu finden. Inzwischen zählt auch dieses erste Klavierkonzert zu den Klassikern seiner Gattung.

Eine Reihe von Empfehlungen möchte ich in der heutigen Ausgabe aussprechen - zunächst Daniel Barenboim mit den Münchner Philharmonikern unter der Leitung von Sergiu Celibidache, aufgezeichnet 1991 in der Stadthalle Erlangen:

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Arthur Rubinstein mit dem Royal Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Bernard Haitink, der Mitschnitt entstand 1973 in Amsterdam - Arthur Rubinstein war damals bereits 85 Jahre alt:

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Krystian Zimerman mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet im Wiener Musikverein am 29. November 1983:

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Helene Grimaud mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, aufgezeichnet im Festspielhaus Baden-Baden am 17. April 2005:

www.youtube.com/watch

Maurizio Pollini mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Christian Thielemann, aufgezeichnet im Juni 2011 in der Dresdner Semperoper:

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Noch einmal Krystian Zimerman - diesmal mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle, aufgezeichnet am 25.06.2015 in der Berliner Philharmonie:

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Und zum Schluss noch ein Konzertmitschnitt vom 6. April 1962, der Schlagzeilen gemacht hat: Das CBC-Radio überträgt ein Konzert des New York Philharmonic Orchestra. Der Sprecher kündigt ganz entspannt den nächsten Programmpunkt an: Der Pianist Glenn Gould wird das Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll von Johannes Brahms spielen, Leonard Bernstein wird dirigieren. Doch dann passiert etwas Unerwartetes.

Leonard Bernstein kommt auf die Bühne und spricht zum Publikum: "Keine Sorge, alles in Ordnung. Mr. Gould ist hier. Jeden Moment wird er erscheinen. Wie Sie wissen, ist es nicht meine Art, vor einem Konzert zum Publikum zu sprechen, doch es hat sich eine seltsame Situation ergeben, die meiner Meinung nach ein oder zwei Worte rechtfertigt. Sie werden eine ziemlich, sagen wir, unorthodoxe Interpretation von Brahms' d-Moll-Konzert zu hören bekommen, eine Interpretation, wie ich sie noch nicht gehört habe - was die sehr breiten Tempi und die äußerst freie Befolgung von Brahms' dynamischen Angaben angeht. Ich kann nicht sagen, dass ich mit Mr. Goulds Konzept dieses Werks einverstanden bin."

Leonard Bernstein distanziert sich öffentlich von Goulds Interpretationsansatz: Er habe noch nie so eine langsame und leise Interpretation dieses Klavierkonzerts gehört. Auf der Bühne stehend räsoniert Bernstein darüber, warum er unter diesen Umständen überhaupt dirigieren solle: Er hätte ja auch seinen Assistenten ans Pult lassen können. Er mache aber mit, weil es sich bei dem Solisten um einen ungewöhnlich begabten jungen Mann handle - und: "Es gibt Momente in Mr. Goulds Interpretation, die wirklich frisch und überzeugend wirken. Und schließlich findet sich in dieser Musik, was Dimitri Mitropoulos 'das sportive Element' nannte - das Element der Neugier, des Abenteuers und des Experiments."

Die Kritiker sind außer sich und beschuldigen Bernstein, er habe sich illoyal verhalten und seinen Kollegen verraten. Ein klassischer Streit zwischen Dirigent und Solist. Bernstein und Gould aber wundern sich nur, denn gestritten haben sie nicht. Im Gegenteil: Die beiden haben vor der Aufführung gemeinsam überlegt, was Bernstein dem Publikum sagen solle. Bernstein bestätigte später, dass er den jungen Pianisten bewundere, Gould sei ein großartiger Typ mit ungewöhnlichen Ideen und das einzige wirkliche Problem sei, dass er nicht mehr mit ihm zusammengearbeitet habe.

Hier Leonard Bernsteins Rede und das anschließende Konzert mit Glenn Gould und dem New York Philharmonic:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd