Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik
unser heutiges Musikstück wirft mindestens ebenso viele Fragen auf, wie der Tod des Komponisten: Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 57, die auch unter dem Namen „Pathétique“ bekannt ist
War es ein erzwungener Selbstmord? Ein „Ehrengericht“ soll es gegeben haben, veranstaltet von ehemaligen Mitgliedern der Rechtsschule, an der er, der bekannte Komponist Peter Tschaikowsky, einst ohne großen Ehrgeiz seine Ausbildung zum Justizbeamten absolvierte, bevor ihm so etwas wie eine musikalische Laufbahn überhaupt in den Sinn kam. So hätte die im 19. Jahrhundert nicht nur in Russland verbreitete Homophobie ein besonders prominentes Opfer gefunden. Denn Tschaikowsky soll mit über 50 Jahren ein Verhältnis mit einem jungen Mann von gesellschaftlich hohem Stand gehabt haben, manche sprechen auch von einem Neffen. Der Vorfall sei der Grund für Tschaikowskys ehemalige Kommilitonen gewesen, ihn in den Selbstmord durch Vergiftung zu treiben, damit kein Schatten auf ihre Alma Mater fällt.
Ein knappes Jahrhundert später, im Jahr 1979 - in Russland ist das Thema Homosexualität weiterhin ein Tabu - brachte die russische Musikwissenschaftlerin Alexandra Orlowa diese These unmittelbar nach ihrer Emigration in die USA in die Öffentlichkeit und fand dafür viel Anerkennung. Ein Skandal, um einen vermeintlichen Skandal zu vertuschen - das sorgte für Schlagzeilen. Knapp 15 Jahre später erschien eine Art Gegendarstellung.
Alexander Poznansky, ebenfalls emigrierter russischer Musikwissenschaftler, versuchte in seinem Buch „Tschaikowskys Tod“ Orlowas Theorie, die ihm suspekt, da eher effekthascherisch als gründlich recherchiert erschien, zu widerlegen. Für ihn ist Tschaikowskys Tod die Folge eines Unfalls, weil der Komponist während einer Choleraepidemie aus Versehen ein Glas unabgekochtes Wasser getrunken habe. Beide Thesen haben Schwächen, und auch das „Ehrengericht“ lässt sich, so spekulativ es wirken mag, nicht eindeutig widerlegen. Das renommierteste englischsprachige Musiklexikon „The New Grove Dictionary of Music and Musicians“ kommt deshalb in dieser Auseinandersetzung zu dem Schluss: „Wir wissen nicht, wie Tschaikowsky starb. Wir werden es möglicherweise nie herausfinden.“
Eine dritte Überlegung zu den Todesumständen bietet eine Mischung aus den beiden Thesen, und diese wiederum ist eng verknüpft mit Tschaikowskys letztem Werk, der sechsten Sinfonie. Aus Verzweiflung über die nicht eben erfolgreiche Uraufführung habe er das verseuchte Wasser absichtlich getrunken und sei dann wenige Tage später verstorben. Entsprechende Todesahnungen seien in der Sinfonie verarbeitet. Tatsächlich war Tschaikowsky sein Leben lang für Krisen empfänglich; oft kämpfte er mit Krankheit und Depression. Nachdem ihn vermutlich sein Vater in eine Ehe drängte, unternahm er 1877 drei Monate später sogar einen Selbstmordversuch. Und auch der plötzliche Abbruch der 14 Jahre währenden Brieffreundschaft zu der ihn großzügig finanziell fördernden reichen Witwe Nadeschda von Meck im Sommer 1890 setzte ihm schwer zu.
Einen Schritt zurück: Sankt Petersburg, 28. Oktober 1893. Peter Tschaikowsky dirigiert die Uraufführung seiner sechsten Sinfonie. Als "Programmsinfonie" bezeichnet er das Werk - und zwar mit einem geheimen Programm: "Es ist von der Art, dass es für alle ein Rätsel bleiben wird! Und nicht selten habe ich, wenn ich herumstreifte und an der Sinfonie arbeitete, sehr geweint."
Die Petersburger sind an jenem Abend irritiert, sie sind verstört von Tschaikowsky neuem Werk. Mit so viel offenkundigem Schluchzen und so viel hingebungsvollem Seufzen hatten sie nicht gerechnet. Selbst für die durchaus mit Melancholie vertrauten Russen war das eine Überdosis. Dabei ging Tschaikowsky das Traurige geradezu locker von der Hand, während er sich für gewöhnlich doch ziemlich plagt mit dem Komponieren: "Die Arbeit ging so leidenschaftlich, so schnell voran, dass ich in weniger als vier Tagen den ersten Satz ganz fertig hatte und sich die übrigen Sätze schon klar in meinem Kopf abzeichnen", berichtete der Komponist. Mit seinem Lieblingsneffen Wladimir Dawydow, auch "Bobyk" genannt, steht er in regem brieflichen Austausch über das Werk. Ihm widmet er die Sinfonie auch. "Ich bin stolzer auf sie als auf alle meine anderen Kompositionen" - ausnahmsweise strotzt Peter Tschaikowsky nur so vor Eigenlob.
Tschaikowsky ist damals 52 Jahre alt, erfolgreich wie kaum ein anderer Komponist, aber dennoch weit entfernt von einem unbeschwerten Leben: Sein Außenseiter-Dasein als Homosexueller macht ihm immer wieder zu schaffen, Schmähungen und Drohbriefe sind an der Tagesordnung, und sein ohnehin labiler Seelenzustand verfinstert sich immer wieder besorgniserregend. Nach der Uraufführung seiner Sechsten ist er geknickt, weil das Publikum die Sinfonie verhalten bis skeptisch aufnimmt. 10 Tage nach der Uraufführung stirbt Tschaikowsky an der Cholera, nachdem er in einem Restaurant ein Glas unabgekochtes Wasser getrunken hat - ob als "Russisch Roulette"-ähnliches Spiel mit dem Schicksal, als gezielter Selbstmordversuch oder schlicht aus Übermut, wird wohl - siehe oben - niemals geklärt werden.
Tschaikowsky hat seiner Sechsten ein Programm gegeben, das ihm aber zu persönlich schien, um es zu veröffentlichen. Nur den thematischen Aufbau der Sätze verriet er: Zuversicht und Tatendrang - Liebe - Enttäuschung - Tod und Verzweiflung. Ungewöhnlich und neu zu jener Zeit war der langsame Schlusssatz - ein Adagio statt des sonst üblichen triumphalen Allegros. Entsprechend zögerlich wurde das Werk nach der Uraufführung vom Publikum aufgenommen. Man kann also nur darüber mutmaßen, welche Geschichte in der Musik steckt. Mit ihrer Vorliebe für dunkle Farben, den zahlreichen Seufzerfiguren, die fast alle Themen prägen, und vor allem dem unkonventionellen, leise sich verlierenden Schluss steht die Sinfonie unüberhörbar in der Nähe eines instrumentalen Requiems. Diesen Zusammenhang unterstreicht auch das Blechbläser-Zitat aus der Durchführung des ersten Satzes. Es ist eine liturgische Melodie aus dem russisch-orthodoxen Stundengebet: "Mit den Heiligen lass ruhen, Christus, die Seelen deiner Diener." Den Beinamen "Pathétique" erhielt die Sinfonie erst nach der Uraufführung von Tschaikowskys Bruder Modest.
Tschaikowskys "Pathétique" zählt heute längst zu seiner bekanntesten und populärsten Werken. Vielleicht hat das Mysterium um den Tod des Komponisten die Popularität der Sinfonie dabei noch verstärkt.
Drei Mitschnitte empfehle ich Ihnen heute sehr gerne. Zunächst die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Seiji Ozawa, die 2008 Tschaikowskys "Pahtétique" als Gedenkkonzert zum 100. Geburtstag ihres langjährigen Chefdirigenten Herbert von Karajan in der Berliner Philharmonie musizierten:
Zum Vergleich: Sir Georg Solti mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, aufgezeichnet 1990 in der Münchner Philharmonie im Gasteig:
Und zuletzt noch ein Mitschnitt aus der Londoner Royal Festival Hall vom 10. März 2022 mit dem Philharmonia Orchestra unter der Leitung von Santtu-Matias Rouvali:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler