Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute wird es mal wieder märchenhaft mit Antonin Dvořáks sinfonischer Dichtung "Das goldene Spinnrad" op. 109.
Nach der Vollendung seiner neunten Sinfonie "Aus der Neuen Welt“ 1893 wandte sich Dvořák in den Jahren 1896/97 der von den sogenannten „neudeutschen“ Komponisten um Franz Liszt entwickelten Gattung der Sinfonischen Dichtung zu. Wie die Gattungsbeiträge Liszts beziehen sich auch die Dvořáks auf literarische Stoffe. Dem „Goldenen Spinnrad“ liegt eine Ballade des tschechischen Dichters Karel Jaromir Erben zugrunde, ein Märchen von archaischer Grausamkeit.
Die Ballade erzählt von einem König, der sich auf einer Jagdpartie in eine schöne Jungfrau verliebt, die an einem Spinnrad sitzt. Er hält um ihre Hand an und die junge Frau verspricht, ihm bald zusammen mit Stiefmutter und Stiefschwester auf sein Schloss zu folgen. Doch auf dem Weg dorthin töten diese beiden die junge Frau, stechen der Leiche die Augen aus und hacken ihr die Gliedmaßen ab. Beides nehmen sie mit aufs Schloss. Da die Stiefschwester der jungen Frau zum Verwechseln ähnlich sieht, hält sie der König für seine Braut, feiert mit ihr Hochzeit und zieht bald darauf in den Krieg. Im Wald findet währenddessen ein alter Zauberer die Gebeine der Braut. Er spricht bei der falschen Königin auf dem Schloss vor und bietet ihr ein goldenes Spinnrad an. Als Gegengabe verlangt er die Augen und Gliedmaßen der Ermordeten. Im Wald fügt er sie dem verstümmelten Körper an und erweckt die Jungfrau wieder zum Leben. Als die falsche Königin das goldene Spinnrad dreht, ertönt aus ihm eine Stimme, die das Verbrechen von Stiefmutter und -schwester offenbart. Der König erfährt so von der Untat. Er eilt in den Wald, holt seine Braut aufs Schloss zurück und gesteht ihr erneut seine Liebe.
Dvořáks sinfonische Dichtung ist an der hier skizzierten Handlung entlang komponiert. Allen Figuren des Märchens wird in dieser großen sinfonischen Erzählung je ein eigenes Thema zugeordnet. Das Motiv des Königs wird gleich in der eröffnenden Jagdszene von den Hörnern vorgestellt und kehrt leitmotivartig wieder, wenn der König in der Handlung auftritt. Eine sich aus lichter Höhe herab neigende Geste der Holzbläser übersetzt die Schönheit seiner Braut in Töne. Für die Liebesglut des Königs erfindet Dvořák eine leidenschaftliche Kantilene der Violinen. Lärmender Festtrubel kündet zuerst von den Feierlichkeiten zur Vermählung des Königs mit der falschen Braut und kehrt am Ende der sinfonischen Dichtung gesteigert wieder. Die beiden bösen Frauen erhalten ein unheimlich zuckendes Motiv im Dreivierteltakt als Kennmarke. Ihre grausame Mordtat bildet im Verlauf des Stückes eine dämonische Scherzo-Einlage. Mit feierlichen Horn- und Posaunenklängen charakterisiert Dvořák den geheimnisvollen Zauberer. Die Szene, in der er von der falschen Braut die Leichenteile zurückfordert und dann die Jungfrau wieder zum Leben erweckt, kann als langsamer Satz der sinfonischen Dichtung gedeutet werden, das Happy-End mit der erneuten Vereinigung der Liebenden als Finale.
„Das goldene Spinnrad“ hat demnach nicht nur die Ausmaße einer Sinfonie, die Komposition vereint in sich auch Abschnitte, die ihren vier Sätzen entsprechen. Das Werk stieß, wie auch die anderen symphonischen Dichtungen Dvořáks nach Balladen Erbens, auf ein geteiltes Echo. Negative Kritiken störten sich vor allem an der grausigen Handlung.
Dennoch - es ist ein großartiges Musikstück, das ich Ihnen heute in zwei Mitschnitten empfehle, zunächst mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Alain Altinoglu. "Das goldene Spinnrad" erklang im Rahmen des Eröffnungskonzertes des Rheingau Musik Festival im Kloster Eberbach am 25. Juni 2022:
Zum Vergleich: Die Essener Philharmoniker unter der Leitung von Tomás Netopil bei einem Gastkonzert am 6. September 2015 im Amsterdamer Concertgebouw:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler