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02.06.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 485

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

unser heutiges Musikstück hat gleich zwei Dutzend Einzelteile: Die 24 Préludes op. 28 von Frédéric Chopin.

Anton Rubinstein nannte sie die Perlen in Chopins Schaffen. Robert Schumann war zwar von ihrer Form irritiert („Ruinen, einzelne Adlerfittiche, alles bunt und wild durcheinander“), erkannte aber „in jedem der Stücke: ‚Friedrich Chopin schrieb’s‘. Man erkennt ihn in den Pausen am heftigen Atmen.“ Der Kritiker James Huneker erklärte, dass die 24 Préludes op. 28 allein den Anspruch Chopins auf Unsterblichkeit rechtfertigten: „Welche Weite, welche Hellsicht, welche Menschlichkeit! Wenn der ganze Chopin, wenn alle Musik vernichtet werden sollte, so würde ich um die Präludien flehen.“ Was im 19. Jahrhundert gesagt wurde, gilt heute nicht weniger - welcher musikalische Zyklus dieses Umfangs bietet eine solche Stimmungs-, Farben- und Formenvielfalt? Viele der Präludien dauern weniger als eine Minute, und nur wenige sind länger als drei - doch nicht nur für Theodor Kullak gilt: „Die Präludien sind in ihrer aphoristischen Kürze Meisterwerke ersten Ranges.“

Dass man ein kurzes Einzelstück für Klavier „Prélude“ nannte, war nichts Neues. Zur Zeit Bachs ging ein Präludium für gewöhnlich etwas anderem voran, sei es eine Fuge oder eine Tanzsuite. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es üblich geworden, dass Pianisten ihr Konzertprogramm mit einer kurzen Improvisation begannen. Auch Chopin pflegte diese Praxis in seinen eigenen Konzerten. Das „Präludieren“ bot Gelegenheit, die Finger zu lockern und sich zu konzentrieren (eine Tradition, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erhalten blieb); eine Gewohnheit, die manchen bedeutenden komponierenden Pianisten jener Zeit zu Sammlungen von Präludien in allen Dur- und Molltonarten anregte. Selten verlassen sie den Bereich der technischen Aufwärmübung. Es war Chopin, der wie so oft einer bestehenden Form eine neue Qualität geben wollte, indem er das Wort „Präludium“ neu definierte und damit das Vorbild für spätere Zyklen von Alkan, Busoni, Rachmaninow und anderen schuf.

Seine Sammlung von 24 Präludien hatte Chopin 1836 begonnen. Ihre Vollendung fiel zusammen mit dem Beginn des Verhältnisses zur Schriftstellerin George Sand. Da ihr voriger Liebhaber mit einem Duell drohte, hielt es das junge Paar im November 1838 für geboten, Paris eine Zeit lang zu verlassen und den Winter zusammen mit George Sands beiden Kindern Maurice und Solange auf Mallorca zu verbringen. Sie reisten getrennt, und Chopin brachte einige seiner geliebten Bach-Bände, Notenpapier und 17 von den Präludien mit. Er hatte sie dem Verleger Pleyel bereits für 2.000 Francs verkauft (zum Vergleich: Ein Dienstbote verdiente damals etwa 500 Francs im Jahr); ein Teil davon wurde als Vorschuss gezahlt, um die Mallorca-Reise zu ermöglichen.

Auf Mallorca erweckte Chopin die 24 Préludes op. 28 aus dem Dornröschenschlaf. Auf der damals noch wilden Insel entstanden die restlichen Préludes. Zunächst sah alles nach dem erhofften Arkadien aus. Chopin erlitt jedoch bereits nach kurzer Zeit einen Tuberkuloseanfall und wurde aus dem Ort verbannt. Gemeinsam mit Sand und ihren Kindern fand er in dem verlassenen Kartäuserkloster Valldemossa Zuflucht. Den widrigen Lebensbedingungen und seiner schweren Krankheit zum Trotz, war die Zeit dort für Chopin ungemein fruchtbar.

In diesem Zusammenhang entstand auch eine der berühmtesten semantischen Zuschreibungen der Musikgeschichte. In ihrem Erzählband "Ein Winter auf Mallorca" lässt George Sand den Leser unmittelbar an Chopins Schaffensprozess teilhaben - etwa an der Entstehung des "Regentropfen"-Préludes: "Ein Präludium ist darunter, welches ihm an einem scheußlichen Regenabend einfiel und das einem das Herz schwermacht. Als ich ihn aufhorchen ließ, denn man konnte tatsächlich den gleichmäßigen Takt von Tropfen hören, die auf das Dach fielen, bestand er darauf, das nicht gehört zu haben. Er wurde sogar ärgerlich, als ich von Tonmalerei sprach. Im Präludium, das er an jenem Abend komponierte, sind die Regentropfen zwar vorhanden, die auf das Dach der Kartause schlugen, aber sie hatten sich durch seinen tonschöpferischen Geist zu Tränen gewandelt, die vom Himmel auf sein Herz tropften."

Die französische Ausgabe des Opus 28 widmete Chopin „À Son Ami Pleyel“. Die deutsche Ausgabe dagegen war Johann Christoph Kessler gewidmet, einem Jugendfreund aus seiner Warschauer Zeit, mit dessen Etüdensammlung op. 20 (Johann Nepomuk Hummel gewidmet) er wohlvertraut war. Am 22. Januar 1839 schrieb Chopin seinem Freund und Sekretär Julian Fontana nach Paris, dass er ihm die fertigen Präludien schicken würde, mit der Anweisung, sie Pleyel persönlich zu übergeben. Zu diesen Tondichtungen en miniature zählen einige der berühmtesten Stücke der gesamten Klavierliteratur, darunter das bereits erwähnte „Regentropfen"-Präludium (Nr. 15 Des-Dur), das Präludium Nr. 20 c-Moll, das Busoni und Rachmaninow jeweils zu Variationszyklen inspirierte, und das Präludium Nr. 6 h-Moll, das jeder junge Pianist kennt, ebenso wie das schon erwähnte e-Moll-Präludium, das Louis James Alfred Lefébure-Wély bei Chopins Beerdigung auf der Orgel spielte.

Vier Interpretationen der 24 Préludes op. 28 stelle ich Ihnen heute gerne zur Auswahl, zunächst Vladimir Ashkenazy in einem Konzert aus dem Jahr 1980:

www.youtube.com/watch

1999 spielte András Schiff Chopins Préludes im Konzertsaal des Pariser Ancien Conservatoire - dort trat Chopin selbst ebenfalls auf:

www.youtube.com/watch

Nach den beiden Altmeistern noch zwei Pianisten der jüngeren Generation - zunächst Yuja Wang in einem Konzertmitschnitt vom 3. April 2017 aus dem Teatro La Fenice in Venedig:

www.youtube.com/watch

Und zum Abschluss Eric Lu - 2015 nahm er am 17. Internationalen Fryderyk Chopin Klavierwettbewerb in Warschau teil. Mit dem Gewinn des vierten Preises wurde er im Alter von 17 Jahren zu einem der jüngsten Preisträger überhaupt in der langen Geschichte dieses prestigeträchtigen Wettbewerbs:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd