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07.06.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 636

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute erwartet Sie Musik aus England, genauer gesagt ein Liederzyklus in ungewöhnlicher Besetzung: On Wenlock Edge für Tenor, Klavier und Streichquartett von Ralph Vaughan Williams.

Diese Sammlung lässt sich nicht unter einem Begriff zusammenfassen, aber gerade darin liegt ihr Reiz und ihr Faszinosum, in ihrer Vieldeutigkeit. Auf den ersten Blick handelt es sich um sechs Lieder oder einen Liederkreis nach Gedichten aus dem zeitgenössischen Lyrikband "A Shropshire Lad" ("Ein Junge aus Shropshire"). Der Dichter und Altphilologe Alfred Edward Housman schrieb diese ebenso kunstvolle wie volkstümliche, hermetische wie herzergreifende Poesie an der Wende der Romantik zur Moderne.

Aber die sechs Lieder, die Vaughan Williams komponierte - ursprünglich für Tenor, Klavier und Streichquartett, erst Jahre später für Orchester - weisen weit über eine Vokalkollektion in der Nachfolge des 19. Jahrhunderts hinaus. Sie kreisen um die junge Liebe und den frühen Tod - ein Lied wagt als Dialog sogar die Zwiesprache mit einem Toten -, sie erschließen einen langen inneren Monolog, dem die Landschaftsbilder und das lautmalerische, teils impressionistische Spiel des Ensembles als Spiegel dienen, nicht als Außenwelt. Das Heulen des Windes, das Läuten der Glocken, alles verwandelt sich in eine Spurensuche der menschlichen Psyche, in eine Traumsphäre, eine Reise ins Unbewusste. Doch da sich Vaughan Williams von den Tonfällen und Tanzrhythmen des English Folk Song leiten lässt, da er selbst "Volkslieder ausgedacht" hat, klingt On Wenlock Edge schon beim ersten Hören vertraut in unseren Ohren: Ein Gefühl von Natürlichkeit, ja mehr noch, von Freundschaft spricht aus diesen Liedern.

Durch die Todesnähe der Dichtung, die Melancholie der Musik, die Klage um viel zu früh aus dem Leben gerissene junge Menschen wurde On Wenlock Edge am Vorabend des Ersten Weltkriegs obendrein noch zur Trauermusik, zu einem Abgesang und Menetekel, einer schwarzen und doch so menschenfreundlichen Prophetie.

Die Entstehung fiel in die Zeit von Vaughan Williams’ Unterricht bei Maurice Ravel, und es finden sich stellenweise Anklänge an die zeitgenössische französische Musik. Besonders eindrucksvoll - wie auch in der Vertonung durch andere Komponisten - ist das dritte Stück der Gruppe ("Is my team ploughing?"). Die tragische Stimmung hellt sich im folgenden Lied ("Oh, when I was in love with you") auf, während Bredon Hill geradezu nostalgisch die Hitze des Sommers und die Glockenklänge einfängt, bevor sich alles in die eisige Todeskälte des Winters verwandelt. Am Schluss obsiegt ein ruhiger Optimismus. Das letzte Lied ("Clun") vermittelt ein Gefühl von Schicksalsergebenheit und innerer Ruhe.    

Ralph Vaughan Williams hatte seine Lektion in Aufrichtigkeit gelernt: "Der Komponist darf sich nicht abschotten und über Kunst nachdenken; er muss mit seinen Mitmenschen leben und seine Musik zu einem Ausdruck des ganzen Lebens der Gemeinschaft werden lassen - wenn wir nach Kunst suchen, werden wir sie nicht finden." Die Uraufführung fand im November 1909 in der Londoner Aeolian Hall statt; es sang der Tenor Gervase Elwes.

Unser heutiger Konzertmitschnitt kommt aus der Schweiz vom Kammermusikfestival Zwischentöne Engelberg; 2021 musizierten im dortigen Kursaal Ian Bostridge, Saskia Giorgini und das Merel Quartet:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Berlin

Matthias Wengler
 

Beitrag von sd