Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
in wenigen Tagen ist es wieder soweit: Die Wiener Philharmoniker werden am 1. Januar wieder ihr Neujahrskonzert mit Werken aus dem Repertoire der Strauß-Dynastie und deren Zeitgenossen musizieren. Das Konzert wird mittlerweile in über 90 Länder weltweit übertragen. Anhand des Konzertwalzers "Rosen aus dem Süden" erfahren Sie heute auch, was der Erfinder der Zwölfton-Technik Arnold Schönberg mit Strauß-Walzern zu tun hat
Die internationale Popularität des Neujahrskonzerts erweckt den Eindruck, als ginge die Strauß-Rezeption bis zu Johann Strauß Vater und somit nahtlos bis zum Beginn der Geschichte des Orchesters zurück. Tatsächlich ignorierten die Philharmoniker jedoch lange diese „wienerischste“ Musik, welche je geschrieben wurde: Offensichtlich schien ihnen der soziale Aufstieg, den sie mittels ihrer Philharmonischen Konzerte erfuhren, durch Beziehungen zur „Unterhaltungsmusik“ gefährdet. Diese Einstellung gegenüber der Strauß-Dynastie änderte sich nur allmählich. Ausschlaggebend für das Umdenken waren neben der Tatsache, dass sich die Mitglieder der einzigartigen Komponistenfamilie der höchsten Anerkennung großer Komponisten wie Franz Liszt, Richard Wagner und Johannes Brahms erfreuten, mehrere direkte Begegnungen mit Johann Strauß Sohn. Sie gaben dem Orchester Gelegenheit, die Bedeutung dieser Musik und die ganz Europa bezwingende Persönlichkeit ihres Schöpfers kennenzulernen.
Auch nach dem Tod des Walzerkönigs avancierten die Philharmoniker nicht sofort zu seinen überzeugten Interpreten. Eine Wende zeichnete sich erst 1921 ab: Anlässlich der Enthüllung des Johann-Strauß-Denkmals im Wiener Stadtpark dirigierte Arthur Nikisch die Walzer „Künstlerleben“, „An der schönen blauen Donau“ sowie „Wein, Weib und Gesang“, und das Beispiel des weltberühmten Künstlers machte offenbar Schule. Den endgültigen Durchbruch brachten die Feiern zum 100. Geburtstag des Meisters (25. Oktober 1925): Felix von Weingartner dirigierte den „Donauwalzer“ in den Philharmonischen Abonnementkonzerten vom 17./18. Oktober und leitete am 25. Oktober ein ausschließlich aus Strauß'schen Werken bestehendes Konzert.
Die eigentliche Strauß-Tradition der Wiener Philharmoniker begründete aber der Dirigent, der bis zum heutigen Tag als vielleicht bedeutendster Apologet dieser Musik gilt: Clemens Krauss. Von 1929 bis 1933 dirigierte er bei den Salzburger Festspielen alljährlich ein Strauß-Programm und nahm damit das Neujahrskonzert vorweg.
Der Ursprung dieses Konzerts fällt in den düstersten Abschnitt der Geschichte Österreichs und des Orchesters. Inmitten von Barbarei, Diktatur und Krieg setzten die Philharmoniker am 31. Dezember 1939 einen ambivalenten Akzent: Der Reinertrag eines der Strauß-Dynastie gewidmeten außerordentlichen Konzerts unter der Leitung von Clemens Krauss wurde zur Gänze der nationalsozialistischen Spendenaktion „Kriegswinterhilfswerk“ gewidmet. 1941 wurde die Philharmonische Akademie „Johann Strauss-Konzert“ am 1. Januar veranstaltet und inmitten des Krieges von vielen Menschen als „echt wienerisches Freudenfest“ verstanden, aber auch von der nationalsozialistischen Propaganda im Großdeutschen Rundfunk vereinnahmt. Clemens Krauss betreute die neugeschaffene Institution bis Kriegsende. In den Jahren 1946 und 1947 stand Josef Krips am Pult, 1948 kehrte Krauss nach Aufhebung seines zweijährigen Dirigierverbotes durch die Alliierten zurück und leitete bis 1954 sieben weitere Neujahrskonzerte.
Der unerwartete Tod von Krauss am 16. Mai 1954 stellte die Philharmoniker vor große Probleme hinsichtlich eines Nachfolgers; es bedurfte mehrerer Orchesterversammlungen, ehe man sich knapp vor dem 1. Jänner 1955 dafür entschied, Konzertmeister Willi Boskovsky die künstlerische Leitung anzuvertrauen. Die Wahl sollte sich als Glücksgriff erweisen: 25 Mal, von 1955 bis 1979, dirigierte Boskovsky dieses Konzert und prägte es so nachhaltig, dass sein Rücktritt das Ende einer Ära bedeutete. Als Boskovsky im Oktober 1979 aus gesundheitlichen Gründen für das Neujahrskonzert 1980 absagen musste, trafen die Philharmoniker wiederum eine grundsätzliche Entscheidung: Mit Lorin Maazel wurde ein international arrivierter Dirigent gewählt, der das Konzert bis 1986 leitete.
Danach entschloss man sich zu einem alljährlichen Wechsel des künstlerischen Leiters. Den Anfang machte 1987 Herbert von Karajan mit einem unvergesslichen Konzert, ihm folgten Claudio Abbado (1988 und 1991), Carlos Kleiber (1989 und 1992), Zubin Mehta (1990, 1995, 1998, 2007, 2015), Riccardo Muti (1993, 1997, 2000, 2004, 2018, 2021), Lorin Maazel (1994, 1996, 1999, 2005), Nikolaus Harnoncourt (2001, 2003), Seiji Ozawa (2002), Mariss Jansons (2006, 2012, 2016), Georges Prêtre (2008, 2010), Daniel Barenboim (2009, 2014, 2022), Franz Welser-Möst (2011, 2013), Gustavo Dudamel (2017), Christian Thielemann (2019) und Andris Nelsons (2020). 2025 leitet dann bereits zum siebten Mal Riccardo Muti das Neujahrskonzert.
Nun zum heutigen Musikstück: Der Konzertwalzer "Rosen aus dem Süden" op. 388 von Johann Strauß Sohn basiert auf seiner Operette "Das Spitzentuch der Königin" und ist dem König von Italien Umberto I. gewidmet. Der Walzer wurde am 7. November 1880 im Wiener Musikverein durch Eduard Strauß uraufgeführt.
Der Ursprung des Walzers selbst liegt in einem Entwurf zu einem Lustspiel mit dem Titel "Cervantes" aus dem Jahre 1879 von Heinrich Bohrmann. Dieser arbeitete sein Material zu einem Libretto für Franz von Suppè aus, welcher jedoch die Vertonung ablehnte und das Material damit an Strauß ging. Der Titel des Walzers geht zurück auf die Arie des Cervantes aus dem zweiten Akt, "Wo die wilde Rose erblüht". Weitere Themen, die aus der Operette in den Walzer eingebaut wurden, sind unter anderem das Trüffel-Couplet und das Finalthema.
Leider ist ein wunderbarer Mitschnitt mit den Wiener Philharmonikern und Zubin Mehta aktuell nur als Audio-Datei verfügbar, daher folgt hier heute eine regionale Empfehlung. Die NDR Radiophilharmonie Hannover spielte den Strauß-Walzer bei ihrem Saisoneröffnungskonzert "Hannover Proms" am 11. September 2021 im Kuppelsaal unter der Leitung von Andrew Manze:
Kaum zu glauben, aber wahr: Eine Bearbeitung dieses Walzers Streichquartett und Klavier stammt tatsächlich von Arnold Schönberg - und sehr gerne denke ich an die eigene Aufführung dieser Bearbeitung im September 2022 in der Destedter Epiphaniaskirche zurück.
Der Verein für musikalische Privataufführungen lud im Mai 1921 zu einem „Außerordentlichen Abend“ in den Festsaal der Schwarzwaldschulen ein. Auf dem Programm standen vier Walzer von Johann Strauß Sohn in Bearbeitungen der Vereinsmitglieder. Arnold Schönberg als programmatischer Kopf des Unternehmens steuerte "Rosen aus dem Süden" und den "Lagunenwalzer" bei, Alban Berg "Wein, Weib und Gesang", Anton von Webern den „Schatzwalzer“ aus dem Zigeunerbaron. Die Arrangeure waren zugleich die Interpreten des Abends: Schönberg wechselte sich mit dem nachmaligen Quartett-Primarius Rudolf Kolisch an der ersten Geige ab, Webern spielte Cello, Berg das Harmonium, Eduard Steuermann den Klavierpart. Nach dem frenetisch gefeierten Konzert versteigerten die Arrangeure respektive Interpreten die Originalmanuskripte ihrer Bearbeitungen, um dem notleidenden Verein Geld zuzuführen. Mit Strauß war dies damals wie heute leicht möglich.
Für Schönberg wie für Berg und Webern war Johann Strauß ein Teil der eigenen Tradition. 1874 in Wien geboren, hatte der Vater der Wiener Schule mit Strauß seine Jugend verbracht, was allein schon durch einen Blick in sein Werkverzeichnis bestätigt wird: zu Schönbergs frühesten Kompositionen zählten ein Allianzwalzer und eine Sonnenscheinpolka für zwei Geigen. Auch Berg und Webern haben dem Walzer später in der ein oder anderen Form ihre Reverenz erwiesen.
Hier also noch Schönbergs Bearbeitung des Strauß-Walzers mit Anton Barakhovsky, Uri Dror (Violine). Ori Kam (Viola) Xenia Jankovic (Violoncello), Elena Bashkirova (Klavier) und Israel Kastoriano (Harmonium), der Mitschnitt entstand im Rahmen des Jerusalem Chamber Music Festival am 3. September 2019:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler