Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
Hosenrollen sind in der Oper nichts Ungewöhnliches - manchmal steckt in Männerkleidern eine Frau, so auch die Titelfigur unseres heutigen Werks: Ludwig van Beethovens "Fidelio".
Ludwig van Beethovens einzige Oper, die ihn über zehn Jahre seines Lebens beschäftigte und die er mehrmals umarbeitete, ist in vielfacher Weise ein Monolith: Zunächst gilt sie bis heute als die Freiheitsoper schlechthin. Die weibliche Hauptfigur Leonore, die sich - als Mann verkleidet - Zugang zu einem Staatsgefängnis verschafft, um ihren zu Unrecht eingekerkerten Mann Florestan zu befreien, ist eine der heroischsten Figuren des Opernkanons. Und trotz der immer wieder stattgefundenen politischen Vereinnahmung der Oper und ihrer Figuren sperrt sich das Werk bis heute gegen einseitige Zuschreibungen: Der humanistisch-idealistische Aufruf der Musik Beethovens ist stärker und universeller als alle Eindeutigkeiten.
Zudem gelang es Beethoven, hier erstmals eine spezifisch deutsche Oper zu komponieren. In der Kombination aus bürgerlichem Rührstück, Rettungsoper und oratorischem Menschheitsappell entstand ein Amalgam, das Vorbildcharakter für die deutsche romantische Oper hatte.
Die Handlung in Kürze: Leonore erschleicht sich in Männerkleidung unter dem Namen Fidelio das Vertrauen des Kerkermeisters Rocco und seiner Tochter Marzelline. So verschafft sie sich Zutritt zum Hochsicherheitstrakt, wo ihr Mann Florestan von Don Pizarro willkürlich festgehalten wird. Florestan schwebt in Todesgefahr, diese scheut seine Frau nicht und will ihn befreien. Beider Rettung ist jedoch nur durch einen Gesandten des Monarchen möglich. Am Ende leuchtet eine Utopie in Form eines Schlusschors, der nicht nur für Freiheit und Gerechtigkeit steht, sondern zugleich gegen die Ängste und Schranken des menschlichen Daseins ansingt. Wie immer finden Sie den ausführlichen Inhalt am Ende dieser Ausgabe.
Den Stoff zu seiner Oper entnahm Ludwig van Beethoven einem französischen Text aus der Feder von Jean Nicolas Bouilly, der, auf einer wahren Geschichte fußend, am Ende des 18. Jahrhunderts ein Libretto unter dem Titel "Léonore ou L’amour conjugal" verfasst hatte, das Pierre Gaveaux in Paris für ein Bühnenwerk vertonte. Lang war der Weg Beethovens zu einer endgültigen Fassung: 1805 und 1806 präsentierte er sein Werk ohne größere Resonanz im Theater an der Wien, um es 1814 im Kärntnertortheater in gründlich überarbeiteter Form nochmals auf die Bühne zu bringen. Im deutschsprachigen Raum, aber auch darüber hinaus avancierte Beethovens "Fidelio" zu einem der zentralen Opernwerke der musikalischen Klassik, mit einer plastischen Figurenzeichnung und eindrucksvollen musikalischen Momenten.
Eine ganze Reihe von Aufführungen empfehle ich Ihnen heute sehr gerne - zunächst die Inszenierung von Otto Schenk an der Wiener Staatsoper, die 1970 zum 200. Geburtstag des Komponisten entstand. 1978 fand eine Reihe von Wiederaufführungen statt, diesmal auch mit Fernseh-Liveübertragung. In den Hauptpartien sind Gundula Janowitz (Leonore), Rene Kollo (Florestan), Lucia Popp (Marzelline), Manfred Jungwirth (Rocco), Hans Helm (Don Fernando), Hans Sotin (Don Pizarro), Adolf Dallapozza (Jaquino) sowie Chor und Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Leonard Bernstein zu sehen:
2004 inszenierte Jürgen Flimm am Opernhaus Zürich Beethovens Meisterwerk - ob diese Besetzung heute noch bezahlbar wäre? Im folgenden Link sehen Sie Camilla Nylund (Leonore), Jonas Kaufmann (Florestan), Elizabeth Rae Magnuson (Marzelline), László Polgár (Rocco), Günther Groissböck (Don Fernando), Alfred Muff (Don Pizarro), Christoph Strehl (Jaquino) sowie Chor und Orchester des Opernhauses Zürich unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt:
"Fidelio" eröffnete am 7. Dezember 2014 in der Inszenierung von Deborah Warner die neue Saison an der Mailänder Scala. Es singen und musizieren Klaus Florian Vogt (Florestan), Anja Kampe (Leonore), Peter Mattei (Don Fernando), Falk Struckmann (Don Pizarro), Mojca Erdmann (Marzelline), Kwangchul Youn (Rocco), Florian Hoffmann (Jaquino) sowie Chor und Orchester der Mailänder Scala unter der Leitung von Daniel Barenboim:
Zum Schluss noch eine aktuelle Inszenierung von Cyril Teste an der Pariser Opéra Comique, die am 1. Oktober 2021 mit folgender Besetzung aufgezeichnet wurde: Siobhan Stagg (Leonore), Michael Spyres (Florestan), Mari Eriksmoen (Marzelline), Albert Dohmen (Rocco), Gabor Bretz (Don Pizarro), Christian Immler (Don Fernando) und Linard Vrielink (Jaquino); es singt und musiziert das Ensemble Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Die Handlung
Florestan ist verschwunden. Leonore, seine Frau, sucht ihn. Sie will ihn retten. Pizarro, sein Feind, hat ihn verfolgt. Er will ihn töten.
1. Aufzug
Leonore vermutet ihren Mann Florestan in Pizarros Machtbereich. Sie nimmt eine andere Identität an und verschafft sich unter dem Namen Fidelio eine Anstellung bei Rocco, der als Wärter in Pizarros Gefängnis arbeitet.
Marzelline, Roccos Tochter, hat sich in Fidelio verliebt. Ihr Verehrer Jaquino, ebenso Angestellter Roccos, ist ihr seitdem ein lästiges Anhängsel, das es loszuwerden gilt. Rocco ist davon überzeugt, dass zum Glücklichsein nicht nur Liebe, sondern auch Geld nötig ist. Er stellt sich auf die Seite seiner Tochter und unterstützt ihr neues Liebesvorhaben. Marzelline sieht bereits die Erfüllung ihrer Träume vor sich: glücklich verliebt an der Seite von Fidelio ihr Leben zu verbringen. Durch das gewonnene Vertrauen von Vater und Tochter hofft sich auch Leonore ihrem Ziel näher, Florestan zu finden. Für Jaquino hingegen bricht eine Welt zusammen.
Pizarros Vorgesetzter Fernando will das Gefängnis inspizieren, weil ihm zu Ohren gekommen ist, dass dort Menschen unrechtmäßig festgehalten werden. Pizarro stimmt sich auf seinen Racheplan ein: Florestan muss noch vor Ankunft Fernandos beseitigt werden. Erledigen soll dies Rocco – natürlich gegen gute Bezahlung. Rocco weigert sich zwar zu morden, doch folgt er seiner Pflicht, als Pizarro ihm den Befehl zur Mithilfe zum Mord erteilt.
Leonore, die das Gespräch zwischen Pizarro und Rocco belauscht hat, ist nun zu allem entschlossen. Sie gewährt den Gefangenen Hofgang, doch unter den verzweifelten, lebensmüden Gestalten kann sie ihren Gatten nicht finden. Deshalb überredet sie Rocco, sie mit in die unterirdischen Gefängnisse zu nehmen, wo sie Florestan vermutet.
Pizarro befiehlt zornig, die Gefangenen wieder einzusperren. Rocco stellt sich schützend vor Marzelline und Leonore. In Anbetracht des Komplotts, Florestan zu beseitigen, sieht Pizarro von einer Bestrafung Roccos für dessen befehlswidriges Handeln ab.
2. Aufzug
Florestan beklagt sein Schicksal. Gleichsam halluzinatorisch erscheint ihm in der Erinnerung das Bild Leonores als rettender Engel.
Rocco und Fidelio steigen hinab zu dem Gefangenen und beginnen mit den Mordvorbereitungen. Entsetzt und hoffnungsvoll zugleich erkennt Leonore in ihm ihren Ehemann. Pizarro erscheint, um Florestan zu töten. Fidelio kann im letzten Moment durch ihr mutiges Dazwischentreten den Mord verhindern und gibt sich als Florestans Gattin zu erkennen, als ein Trompetensignal Fernandos Ankunft verkündet.
Die Gerechtigkeit wird hergestellt und bejubelt: Fernando gibt seinem tot geglaubten Freund Florestan und allen anderen Gefangenen die Freiheit. Pizarro wird bestraft.