Suche

Musik in schwierigen Zeiten Ansicht

06.06.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 782

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein bemerkenswertes Musikereignis geht in diesen Tagen in Leipzig zu Ende: Das Schostakowitsch-Festival beinhaltet innerhalb von rund zwei Wochen die Aufführung aller Sinfonien, Solo-Konzerte, Streichquartette, ausgewählten Werken seiner Kammermusik und die Oper "Lady Macbeth von Mzensk" - das Boston Symphony Orchestra und das Leipziger Gewandhausorchester teilen sich die Mammutaufgabe - dagegen fällt die heutige Ausgabe unserer Reihe sehr bescheiden aus. Hier geht es "nur" um die Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43.

Wohl nur wenige Komponisten standen zeitlebens so unter Beobachtung von Politik und Öffentlichkeit wie Dmitri Schostakowitsch. Nachdem Stalin das Potential seiner Musik erkannt und für seine Zwecke einzuspannen suchte, stand der Komponist unter strenger Kontrolle durch die Kommunistische Partei und den Komponistenverband der UdSSR. Schostakowitschs Psyche und Konstitution litten stark darunter. Da Stalins Säuberungspolitik auch bekannte Personen wie seinen Freund, den Regisseur Wsewolod Meyerhold, nicht verschonte, plagten ihn seit Mitte der 1930er Jahre Verfolgungsängste. Schostakowitsch, der Nacht für Nacht mit gepacktem Koffer neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung auf seine Verhaftung durch die Geheimpolizei wartet - so schilderte es Julian Barnes vor einigen  Jahren in seinem berührenden Buch "Der Lärm der Zeit".

Zweimal wurde Schostakowitsch seitens der Partei massiv kritisiert und öffentlich denunziert. Zum ersten Mal übernahm das im Januar 1936 die "Prawda" mit dem vernichtenden Artikel "Chaos statt Musik". Der wohl von Stalin selbst geschriebene und lancierte Verriss über die bis dato erfolgreiche Oper "Lady Macbeth von Mzensk" kam einem kompletten Aufführungsverbot gleich. Unter diesen Umständen war an die Premiere der vierten Sinfonie, an der Schostakowitsch seit 1935 arbeitete, nicht zu denken. So zog der Komponist sie vorsichtshalber zurück. Die Uraufführung erfolgte erst 25 Jahre später, am 30. Dezember 1961 in Moskau.

Schostakowitsch gilt als bedeutende Gestalt der sowjetrussischen Musikgeschichte und überragender Sinfoniker des 20. Jahrhunderts (nach Mahler). Seine vierte  Sinfonie ist in vielerlei Hinsicht besonders: in der beeindruckenden Orchesterstärke mit über 100 Mitwirkenden und aufgrund ihrer experimentierfreudigen Klangsprache und individuellen Formgebung. Zwei ausgedehnte Ecksätze, gleichsam zwei wilde und exzentrische Gedankenströme, konfrontieren die Hörer:innen mit einer Welt, die zweifellos aus den Fugen geraten ist. Das Menschliche droht in der Konfrontation mit brutalem Maschinensound im ersten Satz bzw. banalem Allerweltsgetöse im dritten Satz unterzugehen. Krzysztof Meyer, Freund und Biograf des Komponisten, beschreibt die vierte Sinfonie als "eines der erschütterndsten und tragischsten Werke Schostakowitschs".  

Unser heutiger Konzertmitschnitt kommt aus der Berliner Philharmonie, die Berliner Philharmoniker spielten das Werk am 27. Januar 1997 unter der Leitung von Bernard Haitink:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd