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07.08.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 513

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute erwartet Sie eine der populärsten Sinfonien der Musikgeschichte: Antonin Dvořáks Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 „Aus der Neuen Welt“.

Als Antonín Dvořák im September 1892 in Bremen einen Dampfer betrat, der ihn in einer neuntägigen Atlantiküberquerung nach New York bringen sollte, war der böhmische Komponist auf einer besonderen Mission. Im Sommer des Vorjahres hatte der bereits international bekannte Dvořák ein Telegramm vom National Conservatory of Music in New York mit der Bitte erhalten, vor Ort die Stelle des Direktors einzunehmen. Aufgrund des in finanzieller Hinsicht höchst verlockenden Angebots sagte er nach langem Zögern zu, verabschiedete sich mit einer Abschiedstournee von seiner geliebten böhmischen Heimat und begab sich schließlich auf die weite Reise. Doch das Angebot des Nationalen Konservatoriums war nicht ohne Hintergedanken. Dvořák sollte amerikanische Nationalmusik entwickeln - seine berühmte neunte Sinfonie mit dem Beinamen „Aus der Neuen Welt“ wurde zum Höhepunkt dieser Bemühungen.

Kaum in Amerika angekommen, trat Dvořák seine Stelle an, begeistert von seiner Aufgabe, dem amerikanischen Musikleben ein eigenes Kolorit zu verleihen. Ideengebend war die Präsidentin des Konservatoriums, Jeanette Thurber, der Dvořáks Engagement für die tschechische Musik in seiner Heimat aufgefallen war. Der Komponist, dem der Heimatbegriff sein ganzes Leben begleitete, schien ihr der ideale Kandidat für ihr Vorhaben, das von europäischer Kunstmusik bestimmte Musikleben Amerikas zu revolutionieren. Dvořák stand nun vor der Frage, was musikalisch als individuell „amerikanisch“ bezeichnet werden kann und begab sich auf die Suche.

Für den Komponisten stand fest, dass man „uramerikanische“ Musik mit ihren spezifischen Melodien, Klangfarben und Rhythmen am besten bei den Ureinwohnern des Kontinents auffinden müsste, sodass er sich zunächst eine Sammlung traditioneller indianischer Melodien besorgte. Zudem ließ er sich von einem schwarzen Studenten des Konservatoriums traditionelle Lieder und Melodien von Plantagenarbeitern aus den Südstaaten vorsingen. Später gab er in einem Interview mit dem New York Herald an, versucht zu haben, den Geist dieser Melodien in seiner neunten Sinfonie einzubeziehen, jedoch keine der originalen Stücke verwendet zu haben.

Dass er mit seinem Vorhaben, die neue amerikanische Musik grundlegend auf den Liedern von Indianern und Schwarzen basieren zu lassen, nicht bei jedem amerikanischen Kulturschaffenden auf zustimmende Worte traf, schien vorprogrammiert. So äußerte sich beispielsweise der US-amerikanische Komponist und Komponist Edward MacDowell kritisch und empfahl eine Orientierung an der Musiktradition der Alten Welt - schließlich bestünde das amerikanische Volk aus Nachfahren europäischer Einwanderer. Dvořák, unbeirrt vom ausgeprägten Rassismus der Zeit, setzte seinen Plan dennoch in die Tat um.

Die Uraufführung der Sinfonie, die zu Lebzeiten des Komponisten noch als seine fünfte Sinfonie bezeichnet wurde, fand am 16. Dezember 1893 in der New Yorker Carnegie Hall mit den New Yorker Philharmonikern statt, am Dirigentenpult stand der aus Ungarn stammende, in Amerika erfolgreiche Anton Seidl, der in Leipzig studiert hatte und von Richard Wagner in Bayreuth gefördert worden war. Die neunte Sinfonie wurde für Dvořák zum größten Erfolg seiner Komponistenlaufbahn: „Der Erfolg war ein großartiger, die Zeitungen sagen, noch nie hatte ein Komponist einen solchen Triumph. Ich war in der Loge, die Halle war mit dem besten Publikum von New York besetzt, die Leute applaudierten so viel, dass ich aus der Loge wie ein König mich bedanken musste.“

Einige Hauptmerkmale der von Dvorák komponierten Melodien decken sich außerdem mit solchen der böhmischen Folklore. Die Pentatonik, die besonders die berühmte Englischhorn-Melodie im Adagio bestimmt, ist sowohl in der slawischen wie in der amerikanischen Volksmusik zu finden, auch die vielen rhythmischen Überraschungen im Kopfsatz reflektieren böhmische Folklore ebenso wie Spirituals. Dvořák betont: "Die Wahrhaftigkeit dieser Musik hängt von ihren Charakterzügen, von ihrer Farbe ab. Ich meine damit nicht, dass man die Melodien von den Plantagen, den kreolischen oder südlichen, einfach nehmen und sie als Thema verarbeiten sollte, das ist nicht meine Absicht. Aber ich studiere bestimmte Melodien so lange, bis ich so weit durchdrungen bin von ihren charakteristischen Zügen, dass ich mir ein musikalisches Bild machen kann, welches im Einklang mit diesen Zügen steht." Dvořák wollte die Musik, die er in den USA kennenlernte, also nicht kopieren, sondern ließ sich davon inspirieren. Trotzdem wurde Dvorák nach der Uraufführung als Begründer eines eigenständigen "amerikanischen" Musikstils gefeiert.

Eine echte nationale Sinfonik blieb noch lange der amerikanische Wunschtraum. Dvořák, der nach knapp drei Jahren nach Europa zurückkehrte, hatte immerhin eine Spur dorthin gelegt. Der Kritiker der New York Times feierte gleich am Tag nach der Uraufführung das nationalsinfonische Experiment eines Musikers aus Europa: „Der Komponist hat eine Sinfonie geschaffen, deren Themen durchdrungen sind vom Geist der Neger- und Indianermelodien. Es ist eine Sinfonie, erfüllt von amerikanischen Gefühlen. Dvořák hat eine amerikanische Sinfonie geschrieben.“

Das Amerikanische in der klassischen Musik war damals nicht nur in Amerika eine viel diskutierte Frage. Als Dvořáks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ zwei Jahre später in der Alten Welt, in Wien, gespielt wurde, meldete der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick Bedenken an: „Was wir ganz allgemein amerikanische Musik nennen, sind eigentlich importierte schottische und irische Volksweisen, nebst etlichen Negermelodien... Das Entscheidende bleibt immer, was Dvořák daraus gemacht hat.“ Und das war eine ganze Menge. Dvořáks musikalischer Reichtum, sein böhmisch-melodisches Genie, seine emotionale Ehrlichkeit bezauberten schon die Zeitgenossen, sogar den knorrigen norddeutschen Wahl-Wiener Johannes Brahms: „Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.“

Soweit die etwas längere Einführung in dieses bis heute populäre Stück. Wer noch mehr erfahren möchte, dem seien heute wieder einmal die "Klassik Shorts" des Bayerischen Rundfunks mit Maximilian Maier empfohlen - Fun facts, musikalische Infos und Ausschnitte aus den jeweiligen Stücken sollen Lust auf das ganze Werk machen:

www.youtube.com/watch

Und hier meine Empfehlungen - heute haben Sie die Qual der Wahl unter Einspielungen aus München und Amsterdam, los geht's mit den Münchner Philharmonikern unter der Leitung von Sergiu Celibidache, aufgezeichnet 1991 in der Münchner Philharmonie im Gasteig:

www.youtube.com/watch

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons, aufgezeichnet 2004 im Münchner Herkulessaal:

www.youtube.com/watch

Das selbe Orchester, der selbe Aufführungsort, ein anderer Dirigent: Andris Nelsons dirigierte das Werk 2011:

www.youtube.com/watch

Und noch einmal das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons, für den das Konzert vom 22. März 2019 der letzte Auftritt im Amsterdamer Concertgebouw war:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss noch das Royal Concertgebouw Orchestra unter der Leitung von Klaus Mäkelä, aufgezeichnet am 15. Januar 2022 im Concertgebouw:

www.youtube.com/watch

Zu Antonin Dvořáks Sinfonie Nr. 9 "Aus der Neuen Welt" ist auch eine Ausgabe der Reihe "Orchester-Detektive" mit Malte Arkona produziert worden: Die "Akte Dvořák" ist die erste rein digitale Version der Kinderkonzert-Reihe der NDR Radiophilharmonie - wie immer sehr sehenswert:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd