Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
Klaviermusik von Edvard Grieg steht in der heutigen Ausgabe auf dem Programm: Die Ballade g-Moll op. 24.
Die Meinungen über Edvard Griegs Ballade „in Form von Variationen über eine norwegische Melodie“ gehen auseinander. Manche halten sie für sein größtes Werk für Klavier solo, ein großartiges Variationenwerk von epischer Länge und tiefgründigem Ausdruck. Andere finden sie nichtssagend, repetitiv, übermäßig lang und gedrechselt.
Grieg bot die Ballade nie öffentlich dar, doch gab er 1876 eine Privataufführung für den Direktor des Musikverlags Peters, Dr. Max Abraham. Zeugenaussagen zufolge war Grieg danach „völlig erschöpft und derartig aufgewühlt, dass er danach lange Zeit kein Wort sagen konnte“. Das Werk hatte für ihn offensichtlich eine starke emotionale Bedeutung - er erklärte, er habe es „mit meinem Lebensblut in Tagen des Kummers und der Verzweiflung geschrieben“. Es entstand nach dem Tod seiner Eltern im Jahr 1875, einer Zeit der Depression, die auch mit Problemen in seiner Beziehung zu seiner Frau zusammenhing.
Das düstere 16-taktige Thema der Ballade stammte aus Ludvig Mathias Lindemans 1840 veröffentlichter Sammlung Ældre og nyere Norske fjeldmelodier („Ältere und neuere norwegische Gebirgsmelodien“), obwohl die Melodie mehrere hundert Jahre älter ist. Die 14 Variationen reichen von einfachen Ausarbeitungen bis hin zu kunstvollen Metamorphosen mit diversen Charakteristika und in sehr unterschiedlichen Stilen. Es gibt Kanons, rezitativartige Passagen, ein melancholisches Lento, witzige Scherzando-Episoden, Schumanneske Passagen und virtuose Liszt’sche Ausbrüche. In den ersten acht Variationen bleibt das Thema sowohl harmonisch als auch melodisch fast unangetastet. Die neunte Variation ist aufwändiger und könnte fast als eigenständiges Musikstück stehen, während die übrigen Variationen einen kontinuierlichen Musikstrom bilden.
Dem Schriftsteller Gregory Martin zufolge könne „Griegs Auseinandersetzung mit seinem Material als eine Art Analogie zum mündlichen Dichter gesehen werden, der Aspekte des Geschichtenerzählens beleuchtet, die in der westlichen Tradition manchmal ungewohnt sind“, womit er Shaws Charakterisierung von Grieg als „Rhapsoden“ unterstreicht. Hier wird griechische Epik gegen norwegische Dichtung ausgetauscht.
Gilt der norwegische Komponist Edvard Grieg bis heute in Bezug auf sein Klavierschaffen gemeinhin als ein ausgewiesener Meister der "kleinen Form", was sich auf sehr eindrucksvolle Weise anhand der zur Weltgeltung gelangten Lyrischen Stücke ablesen lässt, so hat er mit seiner formal und inhaltlich sehr groß angelegten Ballade gewissermaßen das Gegenstück dazu geschaffen. Sie gilt als Griegs wichtigstes Werk für Klavier und ist wohl seine persönlichste Komposition.
Hier zunächst ein Ausschnitt mit Norwegens Star-Pianist Leif Ove Andsnes, der das Werk 2008 aufnahm:
Und hier ein vollständiger Mitschnitt mit Nathanaël Gouin, aufgezeichnet am 17. Juni 2020 im Pariser Maison de Radio France:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee
Matthias Wengler