Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute erwartet Sie ein großes Chorwerk: Franz Schuberts Messe Nr. 6 Es-Dur D 950 ist seine letzte Messe und zugleich seine größte geistliche Komposition überhaupt. Sie ist in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu "Tantum ergo" und "Intende voci" in Schuberts letzten, mit rastlosen Schaffen angefüllten Lebensjahr entstanden (Juni bis Oktober 1828). Während die beiden kleineren Werke vor allem von einer beschwingten Zuversicht beseelt sind, gelangen in der Messe auch die Abgründe existenzieller menschlicher Empfindung zu eindringlichem musikalischen Ausdruck.
Schubert wendet die ganze Kunstfertigkeit seiner reifen künstlerischen Meisterschaft auf - „eine Gabe nicht mehr an diese Welt. Sie hat die namenlose Größe, Wucht und Gewalt jener Grenzgebiete zwischen Leben und Nicht-mehr-Leben, in die Schubert häufig und nun endgültig gerät“, wie Paul Stefan 1928 urteilte.
Mit den sechs Messen steigerte sich Schubert: Nach vier kleineren sind die beiden letzten groß und betont umfangreich gestaltet. Ebenso wie viele andere seiner Werke hörte er auch diese Messe niemals in voller Pracht - gewissermaßen nur mit dem inneren Ohr. Denn erst ein Jahr später, am 8. Oktober 1829, brachte Michael Leitmeyer dieses Werk in der Alserstädter Pfarrkirche Heilige Dreifaltigkeit zur Uraufführung. Die Es-Dur-Messe ist nicht für den liturgischen Gebrauch bestimmt gewesen. Schon vom Umfang her sprengt sie den Rahmen eines Gottesdienstes; auch lassen die technischen Anforderungen an Stimmen und Instrumente erkennen, dass Schubert nicht an eine Aufführung durch Laien dachte, sondern den Weg zur konzertanten Chormesse verfolgt.
Was macht die Musik aus? In erster Linie die Dominanz des Chors: Im Kyrie und Gloria spielen die Solisten - obwohl im Tenor sogar doppelt besetzt - gar keine Rolle. Und das Orchester, in dem übrigens die Flöten komplett fehlen, hat oft eine eher begleitende Funktion. Wie bei allen Messen Schuberts fehlt im Credo die Zeile "et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam" ("Ich glaube an die eine heilige katholische und apostolische Kirche"). Selbst der Lutheraner Johann Sebastian Bach hatte diese Zeilen in seiner h-Moll-Messe vertont. Dennoch ist das Credo wie in anderen Messen ein zentraler Fixpunkt. Schubert war tiefgläubig und galt als fromm, für die strikte Hierarchie der römisch-katholischen Kirche fehlte ihm jedoch das Verständnis; gegenüber dem österreichischen klerikalen System fühlte er eine tiefe Abneigung.
Nach dem großen Erfolg der Erstaufführung geriet das Werk dennoch schnell in Vergessenheit, bis Johannes Brahms in den 1860er Jahren eine Drucklegung veranlasste. Dem Erstdruck folgte 1866 ein harscher, von klassizistischer Musikanschauung geprägter Verriss in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung, der verdeutlicht, wie sehr Schubert mit dem Werk kompositorisches Neuland betrat und sich von den Konventionen seiner Zeit löste.
Zwei Mitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Auswahl: Zunächst das Allerheiligen-Konzert vom 1. November 1986 aus dem Wiener Musikverein mit Karita Mattila, Marjana Lipovsek, Jerry Hadley, Jorge Pita, Robert Holl, der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Claudio Abbado:
Und zum Vergleich noch ein Mitschnitt mit einem Sänger, um den sich heute die Opern- und Konzerthäuser in aller Welt reißen und der damals noch am Beginn seiner Sängerkarriere stand: Jonas Kaufmann. Der Mitschnitt entstand 1997 im Zwiefaltener Münster Unserer lieben Frau während des Festivals "Herbstliche Musiktage" in Bad Urach, zu sehen sind Juliane Banse, Hermine May, Deon van der Walt, Jonas Kaufmann, Hermann Prey sowie der NDR-Chor und das NDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Sylvain Cambreling:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler