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15.04.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 763

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

„O Täler weit, o Höhen, o schöner, grüner Wald“, schwärmte einst Joseph von Eichendorff. Doch ist es im Wald wirklich immer so schön? Beim Hören unseres heutigen Musikstücks von kann man anderer Meinung sein: Tapiola op. 112 von Jean Sibelius.

Der Titel leite sich aus dem finnischen Nationalepos „Kalevala“ ab - von der Waldgottheit Tapio, jener elementaren Naturgewalt des hohen Nordens, die in personifizierter Form als Urvater der Gnome, Trolle und Luftgeister mit seiner weitverzweigten Familie das düstere Reich zwischen Unterholz und schwindelerregenden Wipfeln beherrscht. Dieser Waldgott ist nicht gerade einer, den man einen freundlichen, den Menschen zugewandten Zeitgenossen nennen konnte. Jedenfalls heißt es, dass ihm Opfer darbringen musste, wer im Wald Tiere erlegen und damit für sich und seine Familie sorgen wollte. Das erste Beutestück gehörte nicht dem Jäger, sondern ganz allein dem Gott.

Als der finnische Komponist Jean Sibelius im Jahr 1926 gebeten wurde, ein neues Orchesterwerk zu schreiben, wandte er sich genau diesem Gott Tapio zu. „Tapiola“ taufte er in Anlehnung an den Namen des Gottes seine Sinfonische Dichtung. Diese lässt sich allerdings kaum auf den überirdischen Hüter der finnischen Wälder beziehen; eine konkrete Sage liegt diesem Werk nicht zugrunde. Stattdessen formulierte Sibelius selbst in gleich mehreren Sprachen ein Gedicht, in dem er die Grundzüge seiner Komposition andeutete. Von „des Nordlands düstren Wäldern“ ist da die Rede, von „wilden Träumen“, von „Waldgeistern“, die in der Dunkelheit „weben“. Es ist keine schöne, idyllische Stimmung eines Menschen zugewandten Schöpfergottes oder eines Erwachens und Erblühens der Natur im Gehölz, die hier zum Leben erwacht. Düster und dunkel ist stattdessen die Stimmung von Anfang an. Das Sausen und Brausen der Waldgeister wirkt besonders intensiv - durch eine vielfache Teilung der Streicherstimmen.

Tapiola ist die letzte große Komposition für Orchester, die Sibelius vollenden und veröffentlichen konnte. Sie war ein Auftragswerk des Dirigenten Walter Damrosch für die New Yorker Philharmoniker und wurde am 26. Dezember 1926 uraufgeführt. Damrosch scheint das Wesen von Sibelius’ Werk sofort erfasst zu haben. Kurz vor der erfolgreichen Premiere schrieb er an den Komponisten: „Wir stehen ganz im Bann der düsteren Kiefernwälder; wir hören die heulenden Winde, deren eisige Töne vom Nordpol selbst zu kommen scheinen. Durch alles huschen die Geisterschatten von Göttern und seltsamen Wesen, die die nordische Mythologie bevölkern; sie flüstern ihre Geheimnisse und tanzen ihre mystischen Tänze zwischen Zweigen und Bäumen.“

Was immer wir uns beim Hören darunter vorstellen, Sibelius führt uns in diesem etwa 18 Minuten dauernden Satz in einen Dschungel motivischer Beziehungen.
Stellenweise ist die Musik so dicht, dass sie nur noch aus Klang zu bestehen scheint - und damit den Weg zur Mikropolyphonie der Nachkriegsmoderne ebnet.

Unser heutiger Konzertmitschnitt kommt aus London - Sir Simon Rattle dirigierte am 22. Oktober 2022 das London Symphony Orchestra im Londoner Barbican Centre:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Berlin

Matthias Wengler

Beitrag von sd