Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
nachdem Sie Dvoráks "Rusalka" in der letzten Woche in das Reich der Märchenoper geführt hat, begegnet Ihnen heute mit Leoš Janáčeks Oper "Jenufa" das pralle Dorfleben.
Janáčeks dritte Oper basiert auf „Její pastorkyňa“ („Ihre Stieftochter“) von Gabriela Preissová, einem Drama, in dem die durch Bigotterie und Geldgier vergifteten menschlichen Beziehungen in einem mährischen Dorf ganz unsentimental geschildert werden und das ab 1890 mit großem Erfolg auf den tschechischen Bühnen gespielt wurde. Trauriger Höhepunkt des erschütternden Bauerndramas ist ein Kindesmord zur Rettung der Ehre einer jungen Frau. Die Tragödie ereignet sich in der Familie der alten Müllerin Buryja, einer respektablen Persönlichkeit in einem kleinen Bauerndorf gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vor dem Hintergrund einer äußerst verschlossenen, moralisch repressiven und heuchlerischen Gesellschaft, die unerbittlich an althergebrachten Werten wie Ehre und Achtbarkeit festhält.
Die junge Jenufa erwartet ein Kind von ihrem Geliebten Steva. Laca, sein Stiefbruder, der Jenufa leidenschaftlich liebt, wird von ihr zurückgewiesen. In einem Streit wirft Laca Steva vor, Jenufa nur wegen ihrer Schönheit zu lieben. Als Jenufas Gesicht durch einen Messerschnitt entstellt wird, flüchtet Steva. Die Küsterin, die im Dorf als
moralische Instanz und Vorbild gilt, ist von den starren Moralvorstellungen der Gesellschaft geprägt. Auf fatale Weise greift sie in Jenufas Leben ein: Weil sie nur das Beste für sie, und die Schande, mit unehelichem Kind und ohne Kindsvater dazustehen, von Jenufa abwenden will, ertränkt sie in ihrer Verzweiflung heimlich das Baby im Bach. Um Jenufas Ehre wiederherzustellen, bringt sie die junge Frau außerdem dazu, Steva endgültig zu verlassen und stattdessen Laca zu heiraten. Als am Hochzeitstag das tote Kind gefunden wird, muss die Küsterin ihre grausame Tat gestehen. Die ausführliche Handlung finden Sie wie immer am Ende dieses Newsletters.
In seiner Oper "Jenufa" entwirft Janáček eine detaillierte Milieustudie, in der die Menschen als Gefangene ihrer eigenen starren Wertvorstellungen gezeigt werden. Um die psychologischen Vorgänge der einzelnen Figuren darzustellen, benutzt er die Musik in vielfältiger Stilistik und in weit geschwungenen Melodiebögen. So wechseln sich tonale Motive, die der tschechischen Volksmusik entlehnt sind, mit chromatisch geprägten Elementen ab. Janáček, der sich lange mit der Erforschung und Erfassung
tschechischer Volksmusik beschäftigt hatte, interessierte sich zunehmend für das Analysieren von Sprachmelodien. Um das drastische, lebensnahe Geschehen musikalisch darzustellen, setzte er zum ersten Mal gesprochene Alltagssprache in Musik. Janáček erkannte, dass in den melodischen Motiven der Sprache der wahrhaftigste Ausdruck der Seele liegt. Darum benutzte er an der Stelle der gewöhnlichen Arien diese Sprachmelodien und erreichte damit den wahrhaftigen Ausdruck dort, wo es am bedeutungsvollsten war.
"Jenufa" entstand in einer Zeit, in der Janáček einen schweren persönlichen Schicksalsschlag erlitt: die todbringende Erkrankung seiner Tochter Olga, der die Oper gewidmet ist und die nach seinen Angaben „Modell für Jenufa“ gewesen sei. Der Uraufführung der Oper, die 1903 in Janáčeks Heimatstadt Brünn nach über zehnjähriger Kompositionszeit stattfand, folgte eine rasche Verbreitung und ist heute - neben Smetanas „Verkaufter Braut“ und Dvoráks "Rusalka" - zu Recht eine der erfolgreichsten tschechischen Opern und eines von Janáčeks am häufigsten aufgeführten Stücken.
Heute erwartet Sie eine Inszenierung von Olivier Tambosi aus dem Gran Teatre del Liceu, Barcelona. In der 2005 mitgeschnittenen Aufführung sind in den Hauptpartien zu sehen: Nina Stemme (Jenufa), Eva Marton (Kostelnicka Buryjovka) Jorma Silvasti (Laca Klemen), Pär Lindskog (Steva Buryja), Victoria Cortez (Starenka Buryjovka) und Rolf Haunstein (Starek). Peter Schneider leitet Chor und Orchester des Gran Teatre del Liceu:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Inhalt der Oper
1. Akt
Die zauberhafte Jenůfa erwartet ein Kind und fürchtet, dass ihr geliebter Števa eingezogen wird - damit wäre die Hochzeit vereitelt. Als Števa glücklicherweise nicht eingezogen wird, betrinkt er sich aus lauter Freude. Die Küsterin, Jenůfas strenge Pflegemutter, stellt die Bedingung, dass Števa erst nach einem Probejahr, in dem er sich nicht betrinken darf, ihre Tochter bekommt. Števas Stiefbruder Laca liebt Jenůfa ebenfalls und überzeugt sie davon, dass Števa sie nur wegen ihrer Schönheit liebt. Im Streit verletzt er sie mit dem Messer.
2. Akt
Aus Furcht vor der Schande versteckt die Küsterin Jenůfa zu Hause und behauptet gegenüber den anderen, dass sie nach Wien gereist sei. Unterdessen bringt Jenůfa einen Sohn zur Welt. Während sie schläft, wirft sich die Küsterin vor Števa nieder und bittet ihn, Jenůfa zu heiraten. Števa ist Jenůfa und ihr verletztes Gesicht verleidet, außerdem ist er schon mit einer anderen verlobt. Stattdessen hält Laca um Jenůfas Hand an. Aber er erschrickt, als die Küsterin ihm vom Kind erzählt. Seine Zweifel bemerkend, denkt sich die Küsterin schnell aus, dass das Kind gleich nach der Geburt gestorben sei. Nachdem Laca gegangen ist, ertränkt die Küsterin das Kind im vereisten Fluss und redet dann Jenůfa ein, dass sie mehrere Tage im Fieber geschlafen habe und der Junge in der Zeit gestorben sei. Die erschöpfte Jenůfa willigt in die Hochzeit mit Laca ein.
3. Akt
Während der Vorbereitungen auf die Trauung verbreitet sich die Nachricht, dass im Fluss unter dem Eis ein totes Kind gefunden wurde. Jenůfa erkennt ihren Knaben und wird des Mordes verdächtigt. Die Küsterin bekennt sich vor allen dazu. Als sie abgeführt wird, vergibt ihr Jenůfa, weil sie begreift, dass sie das alles nur aus Liebe zu ihr getan hat. Jenůfa glaubt nicht, dass Laca sie noch mag und schickt ihn weg. Laca aber verspricht ihr, dass er auch in schlechten Zeiten bei ihr bleiben werde und Jenůfa versteht, dass sie in ihm ihre wahre Liebe gefunden hat.