Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute erwartet Sie ein Solokonzert aus der Romantik: Das Violinkonzert Nr. 2 d-Moll op. 22 von Henryk Wieniawski.
Der Pole Henryk Wieniawski ist ein absoluter Frühstarter. So begabt, dass er mit acht Jahren aus Lublin wegzieht, um in Paris am Konservatorium zu studieren. Damit verstößt er gleich doppelt gegen die Statuten, die da lauten: Kein Schüler unter 12! Und kein Ausländer! Er hat Glück und macht mit elf Jahren sein Examen - mit Auszeichnung und großer Goldmedaille. Im Alter von 13 Jahren gibt er bis zu 200 Konzerte jährlich in allen Musikzentren Europas. Es beginnt ein fulminantes, wenn auch zermürbendes Virtuosen-Leben.
Henryk Wieniawski war gerade fünf Jahre alt, als der viel bewunderte und in der ganzen Musikwelt berühmte Geigenvirtuose Niccolò Paganini starb. Während die Fans Paganinis Tod betrauerten, schrieben die Zeitungen, dass es nie wieder einen Virtuosen geben werde, der mit solchem Können und solcher Leidenschaft sein Publikum verzaubern würde. Damals konnte noch niemand ahnen, dass der Nachfolger des so genannten Teufelsgeigers bereits geboren war und sich nur wenige Jahre später zu einem der herausragenden Geigenvirtuosen der Musikgeschichte entwickeln würde: Henryk Wieniawski. In ihm vereinten sich polnische Melancholie und Pariser Eleganz zu einer schillernden und gleichzeitig sympathischen Persönlichkeit. Sein Motto auf der Bühne lautete "Il faut risquer" - "Man muss riskieren". Mit diesem Satz bekannte sich der charismatische Geiger als musikalischer Draufgänger, dem der Schwung und die Leidenschaft seines Vortrags wichtiger waren als die notengetreue Wiedergabe eines Werkes. Leider überkam ihn die Lust am Risiko auch allzu häufig am Roulette-Tisch, wo er ohne Weiteres in nur einer Nacht die Einkünfte einer kompletten Konzertreise verspielen konnte. Er soll sogar einmal seine Guarneri versetzt haben!
Wieniawskis Spiel muss einzigartig gewesen sein. In Bogenhaltung und Vibrato hat er die Geigentechnik revolutioniert. Sein Wahlspruch „il faut risquer“ beschreibt eine wichtige Seite von Virtuosität: Es geht auch um Draufgängertum, um Wagemut und Tollkühnheit - mit dem Risiko des Scheiterns. Diesen rückhaltlosen Einsatz hat Wieniawski gebracht. Glissandi, Doppelgriffe, Arpeggi, Sechst-, Terz-, Oktavparallelen, chromatische Tonleitern, Flageoletttöne? Wird schon schief gehen.
All das findet sich auch in Wieniawskis zweitem Violinkonzert d-Moll. Er schreibt es in den 1860er Jahren in seiner Zeit als Lehrer am Konservatorium in St. Petersburg und widmet es dem Konkurrenten und Freund Pablo de Sarasate. Es ist ein romantisches Virtuosenkonzert par excellence, die Uraufführung fand am 7. November 1862 in St. Petersburg unter der Leitung von Anton Rubinstein statt - mit dem Komponisten als Solisten.
Der Funke sprang jedoch nicht sofort aufs Publikum über. Vermutlich hatte man sich von dem Virtuosen ein bravouröses Konzert erwartet, mit dem er vor allem sein Können hätte zur Schau stellen sollen. Natürlich mangelt es auch in diesem Konzert nicht an halsbrecherischen Passagen. Dennoch überrascht von den ersten Takten an ein beinahe sinfonischer Orchesterpart, der erstaunlich lyrisch anmutet und nicht mit dem Soloinstrument in Wettstreit tritt, sondern wie ebenbürtig behandelt wird. Dieses ausgeglichene Verhältnis zwischen Violine und Orchester wird noch hervorgehoben durch den Verzicht einer Solokadenz im ersten Satz. Das Eingangsthema ist geprägt von russischer Schwermut und wird abgelöst von einem helleren Seitenthema, das sich durch alle weiteren Sätze zieht und damit zur geschlossenen Form beiträgt. Der zweite Satz ist eine verträumte Romance, ähnlich einer Opernarie, die das lebendige Nebenthema des ersten Satzes wieder aufgreift und in einer ausgedehnten Solokadenz endet. Das Finale trägt dann den Untertitel "à la zingara", zu dem sich Henryk Wieniawski selbst äußerte: "Ich wollte eine kleine Dorfszene malen: einen Sommerabend, die Dorfbewohner sind auf dem Dorfplatz versammelt und wollen tanzen; es herrscht allgemeine Heiterkeit, Scherzen und Gelächter."
Musikalisch lehnt er diesen dritten Satz an bekannte Motive von Franz Liszts Ungarischen Rhapsodien an. Der Geigenpart wartet mit allen gängigen technischen Raffinessen des 19. Jahrhunderts auf, darunter Glissandi, Doppelgriffe, Arpeggi und Flageoletttöne. Nach der Uraufführung arbeitete Wieniawski weitere acht Jahre an diesem Konzert, richtete das Notenmaterial samt zugehörigen Vortragsanweisungen sorgfältig ein und veröffentlichte es dann im Jahr 1879.
Trotz der finanziellen Sicherheit konnte sich der Geiger mit dem sesshaften Leben am Zarenhof nicht anfreunden, vor allem weil ihm Konzertreisen verboten waren - eine Vertragsklausel, die er in den Sommermonaten jedoch regelmäßig missachtete! Nachdem Wieniawski im Sommer 1872 um Auflösung seines St. Petersburger Vertrages gebeten hatte, stürzte er sich sofort wieder in exzessive Tourneen. Höhepunkt war eine Reise durch Nordamerika zusammen mit seinem Freund und Kollegen Anton Rubinstein. Unglaubliche 215 Konzerte in nur acht Monaten standen auf dem Tourneeplan - eine Tortur, die Rubinstein physisch und mental an seine Grenzen brachte. Wieniawski hingegen schien ganz darin aufzugehen, verlängerte seinen Aufenthalt sogar, um Konzerte in Mexiko zu geben.
Ganz ohne Folgen gingen die Strapazen der Reisen und der enorme Arbeitsdruck allerdings nicht an ihm vorbei. 1874 zeigten sich bereits erste gesundheitliche Probleme, die er jedoch erfolgreich ignorierte. Wie ein Besessener setzte er seine Konzerte und Reisen fort, erhielt zudem eine Professur in Brüssel, wo Eugène Ysaÿe zu seinen Schülern zählte. Nach wie vor war er schwer spielsüchtig und brauchte die Konzerte, um seine Schulden zu begleichen. Die Lage spitzte sich immer mehr zu. Bei einem Konzert in Berlin im November 1878 brach der 43-Jährige, der an einer Herzerkrankung litt, auf der Bühne zusammen, während er das zweite Violinkonzert spielte.
Sein letztes Konzert in Moskau konnte er nur noch im Sitzen absolvieren. Nadeshda von Meck, die Gönnerin Peter Tschaikowskys, nahm den mittellosen und schwer kranken Künstler bei sich auf, wo er wenige Wochen später im Beisein seiner Ehefrau und seines ältesten Sohnes verstarb. Noch heute sind seine Werke für angehende Geiger von großer Bedeutung, sowohl hinsichtlich der Spieltechnik als auch der Stilbildung. Yehudi Menuhin sagte einmal, es sei unmöglich einen Geiger ohne die Musik von Henryk Wieniawski auszubilden.
Unser heutiger Mitschnitt kommt aus Tokio: Joshua Bell musizierte Wieniawskis zweites Violinkonzert 2019 mit dem NHK Symphony Orchestra unter der Leitung von Paavo Järvi in der NHK Hall:
Erst vor wenigen Wochen, am 18. Oktober, gastierte Joshua Bell mit diesem Konzert beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Das vollständige Konzert mit Jakub Hrusa als Gastdirigenten ist aktuell noch in der Mediathek verfügbar - hier das Programm:
Leoš Janáček: Suite aus der Oper "Osud"
Henri Wieniawski: Violinkonzert Nr. 2 d-Moll op. 22
Witold Lutosławski: Konzert für Orchester
Und hier der Link zum Konzert: www.br-klassik.de/concert/ausstrahlung-3607340.html
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler