Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
Heute erwartet Sie ein Chorwerk von Johannes Brahms: Schicksalslied op. 54.
Ehe er sich als freischaffender Komponist in Wien niederließ, hatte Johannes Brahms in verschiedenen Städten als Chordirigent gewirkt und dabei ein untrügliches Gespür für das Genre der Chormusik, insbesondere auch der sinfonischen Chormusik, entwickelt. Der Durchbruch als Komponist gelang ihm 1868 mit seinem Deutschen Requiem, es folgten weitere Kompositionen für gemischten Chor und Orchester, darunter das Schicksalslied, in dem Brahms einen Text von Friedrich Hölderlin vertonte.
Anlässlich eines Besuchs bei den Freunden Dietrich und Reinthaler entdeckte Brahms das Hölderlin‘sche Schicksalslied und war so beeindruckt, dass er sogleich mit Skizzen begann und sogar den Aufenthalt abbrach, um in Hamburg daran weiterarbeiten zu können. Trotzdem kam es nicht zur schnellen Fertigstellung, andere Werke wurden eingeschoben, und erst im Mai 1871 war die Komposition abgeschlossen.
In seinem Gedicht - eingestellt in den Briefroman Hyperion, der vom Freiheitskampf der Griechen nach jahrhundertelanger Unterdrückung durch die Türken handelt - akzentuiert Friedrich Hölderlin den Gegensatz zwischen der strahlenden Götterwelt des alten Hellas und den stets vom Schicksal bedrohten Menschen. Von diesem Kontrast ist das gesamte Schicksalslied geprägt: „Ihr wandelt droben im Licht“, heißt es in der ersten Strophe von den antiken Göttern, woran sich eine nähere Beschreibung der geruhsamen göttlichen Gefilde anschließt. Die zweite Strophe charakterisiert gleich mit dem ersten Wort den beneidenswerten Zustand, frei von jeder Bedrohung zu sein: „Schicksallos“. Die dritte Strophe schließlich zieht den Vergleich zur Situation der Menschen während der Befreiungskämpfe, weist jedoch zugleich über sie hinaus auf ihre allgemeinere Situation, der stetigen Bedrohung durch das Schicksal: „Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn; es schwinden, es fallen die leidenden Menschen, blindlings von einer Stunde zur andern, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, jahrlang ins Ungewisse hinab.“
In Brahms’ Hölderlin-Vertonung begegnet uns der seltene Fall, dass ein Komponist einen vorgegebenen Text durch die Musik nicht nur eigenwillig interpretiert, sondern erklärtermaßen in Opposition zur Aussage des Dichters tritt. Was zunächst nur als Bemühen um formale Abrundung erscheint, die Wiederholung der Orchestereinleitung am Schluss des Werkes, erweist sich als ein auf den Inhalt des Gedichts bezogener Einspruch des Komponisten. In einem Brief schrieb Brahms 1871 darüber: „Ich sage ja eben etwas, was der Dichter nicht sagt, und freilich wäre es besser, wenn ihm das Fehlende die Hauptsache gewesen wäre.“ Und etwas später fügt er bescheiden hinzu: „Wenn man auch vielleicht auseinandersetzen kann, dass der Dichter die Hauptsache nicht sagt, so weiß ich doch nicht, ob sie denn jetzt zu verstehen ist.“
Es lässt sich unschwer ermitteln, was Brahms als die im Gedicht fehlende „Hauptsache“ angesehen hat. Indem er der abschließenden „Menschenstrophe“, deren letzter Vers „Jahrlang ins Ungewisse hinab“ Hölderlins Gedicht schroff beendet, das auf die ersten beiden „Götterstrophen“ vorbereitende Orchestervorspiel als Wiederholung nachschickt, rückt er das fatalistische Bild der Menschenexistenz zurecht: Durch diesen Ausdruck des Glaubens gewinnt der Mensch eine Teilhabe am göttlichen Frieden. Vor allem das Hin- und Hergeworfensein der Menschen und ihren plötzlichen Sturz ins Ungewisse weiß Brahms mit herabstürzenden Streicherfiguren tonmalerisch eindrucksvoll zu schildern. Während Hölderlins Gedicht den Leser mit dem Sturz ins Ungewisse entlässt, greift Brahms zum Schluss noch mal im Orchester die ruhige Stimmung des Anfangs auf - ein Hoffnungszeichen, das es bei Hölderlin nicht gibt.
Brahms' Schicksalslied wurde am am 18. Oktober 1871 in Karlsruhe mit dem Chor und Orchester des Philharmonischen Vereins unter Leitung des Komponisten uraufgeführt.
Unser heutiger Mitschnitt entstand am 25. Oktober 2013 in der Frankfurter Alten Oper. Es singen und musizieren das Collegium Vocale Gent und das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Philippe Herreweghe:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
