Suche

Musik in schwierigen Zeiten Ansicht

26.11.2021 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen - 253

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

zum ersten Adventswochenende in diesem Jahr fällt meine Wahl auf ein Chorwerk von Felix Mendelssohn Bartholdy: Der 42. Psalm op. 42 „Wie der Hirsch schreit“, seine wohl bis heute bekannteste und bedeutendste Psalmvertonung im Gesamtwerk.

Am 28. März 1837 heiratete Felix Mendelssohn Bartholdy die Pfarrerstochter Cécile Jeanrenaud. Mendelssohns Vertonung des 42. Psalms entstand größtenteils  während seiner Hochzeitsreise, die das junge Ehepaar u. a. durch das Elsass und den Schwarzwald führte. Eine kürzere erste Fassung (mit dem jetzigen Chor Nr. 4 als Schlusschor) erlebte ihre Uraufführung am 1. Januar 1838 im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung des Komponisten. Bis April 1838 vollendete Mendelssohn das Werk dann in seiner heute bekannten Form.

Die Psalmkantate wurde zu Lebzeiten des Komponisten häufig aufgeführt. Robert Schumann urteilte, das Werk sei „die höchste Stufe, die er (Mendelssohn) als Kirchenkomponist, ja die neuere Kirchenmusik überhaupt, erreicht hat“. In der Tat setzt Mendelssohn sein kirchenmusikalisches Ideal hier in Reinform um: Er vertont nicht in lautmalerischer Weise den Hirsch, der nach frischem Wasser schreit, sondern beschreibt in dem getragenen Kopfsatz eher eine Seele, die ihren Frieden schon gefunden hat und sich an ihre Kämpfe nur zurückerinnert. Nicht die dramatische Seite des Textes wird umgesetzt (das gewaltige Ringen eines gegen das Unglück Ankämpfenden), sondern die innerlichen Konflikte eines gläubigen Menschen, die im Verlauf des Werkes zu unerschütterlichen Gottvertrauen führen, das letztlich alle geistlichen Werke Mendelssohns prägt.

In der späteren Rezeption sind hier die üblichen Vorurteile gegen den Komponisten mit besonderer Vehemenz ins Feld geführt worden: Mendelssohns Musik sei undramatisch, übermäßig sentimental, der Komponist sei zu wahrhaft tiefen, tragischen Gefühlen nicht fähig. So charakterisierte der Mendelssohn-Biograf Eric Werner den Psalm noch 1980 als „eine triviale theologische Tirade mit opernhaftem Einschlag“ und befand, dass die „Musik einen unangenehm salbungsvollen Charakter“ habe und dass „alles abgeschwächt, gedämpft ist, was im Gedicht mit starken Worten und leidenschaftlichen Bildern und Erinnerungen auf den Leser eindringt“. Dagegen steht nicht nur Mendelssohns eigene Einschätzung des 42. Psalmes als eines seiner gelungensten Werke, sondern vor allem die geradezu überschwängliche Aufnahme des Werkes bei seinen Zeitgenossen: Offenbar spiegelte das Werk nicht nur seine eigene Religiosität, sondern auch die seiner Mitmenschen in selten geglückter Weise wieder.

Der vertonte Text umfasst den vollständigen Psalm 42 in der Luther-Übersetzung mit Auslassung zweier kurzer Passagen. Daraus schafft Mendelssohn eine formal und satztechnisch vielgestaltige Abfolge von sieben Nummern, die reich an originellen Eingebungen und musikalischen Schönheiten ist: Der sanft fließende, mild-sehnsuchtsvolle Eingangschor, die folgende Arie mit ihrem ausdrucksvollen Dialog von Sopran-Solo und Oboe, die eingeschobenen Rezitative, das Quintett mit der Gegenüberstellung von seelischer Anfechtung (Sopran-Solo) und Gottvertrauen (Männerquartett) und schließlich der groß angelegte Schlusschor mit seinem Rückgriff auf musikalisches Material des vierten Satzes und einer thematisch daraus entwickelten, gewaltigen Schlussfuge gehören sicherlich zum Besten, was Mendelssohn für Chor und Orchester komponiert hat.

Unser heutiger Konzertmitschnitt entstand am 12. Dezember 2014 im Utrechter TivoliVredenburg mit Christina Landshamer (Sopran), dem Groot Omroepkoor und dem Radio Filharmonisch Orkest unter der Leitung von Philippe Herreweghe:
 
www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes erstes Adventswochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von red