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27.01.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 729

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute erwartet Sie wieder einmal ein Werk von Joseph Haydn: die Sinfonie Nr. 98 B-Dur.

Die zwölf „Londoner" Sinfonien bilden den erhabenen Schlussakkord in Haydns sinfonischen Œuvre. Sie entstanden für den Londoner Impresario Johann Peter Salomon und Haydn selbst dirigierte die Erstaufführungen, als er sich 1791/92 und 1794/95 für längere Zeit in der englischen Metropole aufhielt.

Die Sinfonie Nr. 98 wurde 1792, während des ersten Londoner Aufenthalts, komponiert und dort am 2. März 1792 im Rahmen des dritten Salomon-Konzerts der Saison in den Hanover Square Rooms zum ersten Mal aufgeführt. Diese Komposition erfreute sich noch zu Lebzeiten Haydns eines außerordentlich hohen Bekanntheitsgrades. Die Originalpartitur, zeitweilig im Besitz Beethovens, dann in der Preußischen Staatsbibliothek Berlin, befindet sich aktuell  in einer russischen Sammlung.

Im ersten Satz versucht Haydn, die langsame Einleitung stärker als bisher in den Gesamtzusammenhang des Kopfsatzes zu integrieren: Die Einleitung beginnt in b-Moll mit einem Dreiklangsthema, das zuerst in abgesetzten, dann in gebundenen Noten vorgeführt wird und sich als Hauptthema des Vivace-Hauptteils herausstellt. Dieser, in dem beide Artikulationsvarianten des Themas Verwendung finden, geht weit hinaus über alles, was Haydn in früheren Sinfonien (auch in den "Pariser" Sinfonien) an kompositorischer Eleganz, kontrapunktischem Können und Kombinationsgabe demonstriert - und dies alles in der selbstverständlichsten Weise, die man sich denken kann.

Der zweite Satz beginnt choralartig mit zwei Verszeilen, die an “God save the King” anklingen. Die Passagen, die sich daran anschließen und zu einem krisenhaften Kulminationspunkt geführt werden, sind ganz ohrenfällige Paraphrasen eines Abschnitts aus dem langsamen Satz von Mozarts “Jupiter”-Sinfonie. Man hat diesen Satz mit Recht als eine Trauermusik auf Mozarts Tod angesehen: Haydn hatte, als er in London Ende 1791 vom Tod Mozarts erfuhr, in einem Brief geschrieben: “Ich war über seinen Tod eine geraume Zeit ganz außer mir und konnte es nicht glauben, dass die Vorsicht (Vorsehung) so schnell einen unersetzlichen Mann in die andere Welt fordern sollte.”

Nach dem überraschend alpenländisch-derben Menuett gibt es am Schluss des vierten Satzes unerwarteterweise eine kleine Solo-Passage für das Cembalo, d. h. für den Komponisten des Werks selbst. Es ist heute nicht mehr üblich, Haydns “Londoner" Sinfonien so aufzuführen, wie es bei den Salomon-Konzerten geschah: nämlich mit obligatem Cembalo, und zwar dem Komponisten selbst am Instrument, der zwar nicht immer mitspielte, aber von dort aus seine Direktiven gab.

Diese Selbstinszenierung des Komponisten am Schluss des Werks ist jedoch Gegenstand eines subtilen musikalischen Gags: Der Schlusssatz, vom Typ her eines der Haydnschen “Jagd”-Finali, läuft zunächst 327 Takte lang in rasantestem Sechsachteltakt bis an sein formales Ende, dem zweiten Wiederholungszeichen, ab, aus Gründen des Tempos keine Sechzehntelnoten-Passagen zulassend. An dieser Stelle macht das Orchester eine rhetorische Kunstpause und setzt danach “più moderato” in deutlich gemächlicherem Tempo ein mit dem Hauptsatz, dessen Achtelnoten nun sehr abgezirkelt und künstlich wirken. Ein ausdrücklich vorgesehenes großes Crescendo des ganzen Orchesters führt zu einem weiteren Generalpausen-Doppelpunkt, nach welchem der am Cembalo sitzende Orchesterleiter nun mit seinem Instrument einsetzt und, den Rest des Werks mit einfachen Sechzehntelfigurationen begleitend, die Sinfonie zu Ende bringt.

Hat man es hier mit einer Selbstpersiflage des Komponisten-Dirigenten zu tun? Die Erstaufführung der Sinfonie Nr. 98 war jedenfalls so erfolgreich, dass die beiden Allegro-Ecksätze sogar wiederholt werden mussten. Haydn leitete die Aufführung  von einem Tasteninstrument aus.

Unser erster Konzertmitschnitt ist 50 Jahre alt: Leonard Bernstein führte Haydns Sinfonie 1975 mit dem New York Philharmonic in der damaligen Avery Fisher Hall im New Yorker Lincoln Center auf:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich ein Mitschnitt vom 3. März 2019 aus dem Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, es musiziert die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Ton Koopman:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd