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12.04.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 614

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

Musik aus Russland erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Sergej Prokofjews Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100.

Moskau, Juni 1944. Inmitten des Zweiten Weltkrieges herrschen in der Hauptstadt der Sowjetunion Hunger und Wohnungsnot. Sergej Prokofjew bewohnt gemeinsam mit seiner Frau ein Zimmer im Hotel Moskwa, unweit des Roten Platzes. Doch die Bedingungen sind auch hier alles andere als ideal. An Komponieren ist nicht zu denken. Da erlöst ihn die Einladung, den Sommer im Haus des Komponistenverbandes in Iwanowo zu verbringen.

Am Rande der 250 Kilometer nördlich von Moskau gelegenen Stadt finden sich weite Wälder und viel Natur. Prokofjew macht ausgedehnte Spaziergänge und fühlt sich an seine Kindheit erinnert, die er auf einem Landgut verbrachte. Er weiß, dass von ihm in jenen Kriegszeiten ein heroisches Werk erwartet wird. Hier arbeitet er an dem betont großartig angelegten, viersätzigen Werk, das mit seiner Klangfülle wohl sein gesamtes sonstiges Œuvre übertrumpfen sollte. Es entsteht tatsächlich eine repräsentative Sinfonie, die jedoch über die Zeitumstände deutlich hinausreicht. Ähnlich wie Bartók in seinem zweiten Violinkonzert vollzieht auch Prokofjew in seiner Fünften eine Synthese seines bisherigen Schaffens. Seine Erste und auch die Vierte schlagen neoklassizistische Töne an, während die Zweite und die Dritte eher wild, dissonant, ja teilweise roh daherkommen. In der Fünften ist der Stil gemäßigt, und die Musik entwickelt sich mit großen epischen Bögen.

Schon nach zwei Monaten ist die Komposition vollendet, sodass Prokofjew am 26. August die Komponistenkollegen, die ebenfalls in Iwanowo weilen, zusammenruft, darunter auch Dmitri Schostakowitsch. Auf dem Klavier spielt Prokofjew ihnen das neue Werk vor. Dmitri Kabalewski erinnert sich: "Die Sinfonie hinterließ bei uns allen einen starken Eindruck, und wir machten aus unserer Begeisterung keinen Hehl. Prokofjew war sehr befriedigt - hielt er dieses Opus doch immer für eins seiner besten Werke."

Er selbst bezeichnete sie bei der Uraufführung als „eine Sinfonie von der Größe des menschlichen Geistes“. Der erste Satz, ein Andante, das man traditionell eher an zweiter Stelle erwarten würde, ist breit angelegt und vom Blech-Sound geprägt. Darauf folgt ein verspieltes Allegro moderato, das die Kavallerie gewissermaßen an die Front begleitet. An dritter Stelle dann wieder ein Adagio, das dunkel-melancholisch romantische und spätromantische Elemente aufnimmt. Und schließt sorgt das Allegro giocoso für einen tänzerischen Schlusspunkt. Anfang 1945 dirigiert der Komponist selbst die Uraufführung. Als er bereits den Taktstock gehoben hat, klingen plötzlich Kanonensalven in den Großen Saal des Moskauer Konservatoriums herein und verkünden den sowjetischen Sieg an der Weichsel - eine historische Konnotation voller Ambivalenz.

Von einer plastischen (Kriegs-)Bildersprache zwischen Pathos und Groteske ist diese fünfte Sinfonie gekennzeichnet. Der Pianist Swjatoslaw Richter urteilte nach der Uraufführung: "Prokofjew sieht von der Höhe auf sein Leben herab und auf alles, was war. Etwas Olympisches liegt darin."

Vor meinen heutigen Konzertempfehlungen weise ich gerne noch auf die Kurzeinführung "Kurz und Klassik" mit Cristian Măcelaru und dem WDR Sinfonieorchester zu diesem Werk hin:

www.youtube.com/watch

Zwei Empfehlungen erwarten Sie zum Abschluss der heutigen Ausgabe, zunächst ein Mitschnitt vom 22. August 2013 im Rahmen der BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich noch ein komplettes Gastkonzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons vom 13. Januar 2018 in der Hamburger Elbphilharmonie - das Programm sah wie folgt aus:
Richard Strauss - Also sprach Zarathustra op. 30
Sergej Prokofjew - Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100
Zugabe: Peter Tschaikowsky - Panorama aus dem Ballett "Dornröschen" op. 66

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd