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06.11.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 701

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

mit seinem Opus 5 hatte Johannes Brahms die Grenzen der Sonatengattung ausgelotet und sogar überreizt. Er sprengte ihr traditionelles Korsett und schuf ein höchst impulsives und zugleich sehr lyrisches Werk. Unser heutiges Werk ist die Klaviersonate Nr. 3 f-Moll op. 5.

Johannes Brahms war 20 Jahre jung, als er seine dritte und zugleich auch letzte Klaviersonate komponierte. Zwar folgten noch zahlreiche weitere Klavierwerke, aber keine Sonate mehr für Klavier solo. Im Sommer 1853 brach der junge Hamburger Johannes Brahms zu seiner ersten Rheinreise auf. Zu Fuß ging es von Mainz nach Düsseldorf; Besuche führten den genialen 20-jährigen zu dem Geiger Josef von Wasielewski nach Bonn, in die Villa Deichmann nach Mehlem und nach Neuwied. Von dort unternahm er Ausflüge ins Ahrtal, zu den Lavagruben in Nieder-Mandig und an den Laacher See. An Zeugnissen über dieses erste, überwältigende Erlebnis der Rheinlandschaft besitzen wir zum einen Briefe - mancher von ihnen auf dem Rheindampfer an seinen Freund Joseph Joachim geschrieben -, zum anderen Musik: Brahms vollendete während dieser Wochen seine Klaviersonate C-Dur op. 1 und begann seine Sonate f-Moll op. 5.

Denkwürdiger Höhepunkt der Rheinreise und zugleich die Premiere der f-Moll-Klaviersonate war der erste Besuch bei den Schumanns in Düsseldorf. Am 30. September empfing das Künstlerehepaar den ihnen noch unbekannten Freund Joachims und schlossen ihn spontan ins Herz. Aus einem kurzen Abstecher wurde ein ausgedehnter fünfwöchiger Aufenthalt, der bis zum 3. November andauerte und die Weichen für Brahms' Karriere stellte. Schumann verfasste den Aufsatz "Neue Bahnen", seine begeisterte Schilderung des jungen Genies, und er interessierte seine Verleger für dessen erste Werke.

Brahms schickte Ende Dezember 1853 seine f-Moll-Klaviersonate an den Leipziger Verleger. Er hatte sie am Vortag seiner Abreise von Düsseldorf den Schumanns noch aus dem Kopf vorgetragen und Mitte November in Hannover endlich aufgeschrieben. Nach einigen Verbesserungen kam sie schon im Februar 1854 zum Druck, wurde mehrfach rezensiert und von zwei Virtuosen noch im gleichen Jahr uraufgeführt: Clara Schumann spielte im Oktober 1854 Andante und Scherzo im Leipziger Gewandhaus, Hermann Richter die gesamte Sonate Anfang Dezember in Magdeburg.

Man wird die f-Moll-Sonate kaum hören können, ohne sich die Gestalt des 20-jährigen Brahms ins Gedächtnis zu rufen: „Das ist wieder einmal einer, der kommt wie eigens von Gott gesandt!“ so Clara Schumanns erster Eindruck von Brahms, kurz nach der ersten Begegnung notiert. Er bezeichnet den Nimbus des jungen Genies ebenso deutlich wie die prophetischen Worte ihres Mannes in dem erwähnten Aufsatz "Neue Bahnen": „ein junges Blut, an dessen Wiege Helden und Grazien Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigten: das ist ein Berufener. Am Klavier sitzend fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen.“

Seit Schuberts späten Sonaten hatte es keine ähnlich monumentalen Klaviersonaten mehr gegeben wie die Brahms’schen. Typisch für sie ist zum einen die quasi-sinfonische Form der Ecksätze, die sich mit orchestralem Klaviersatz paart - der Tonfall „verschleierter Sinfonien“; zum anderen die Poesie der langsamen Sätze, denen in Opus 5 ein Gedichte zugrunde liegt. Dem Andante des Opus 5 stellte Brahms ein Gedicht von C. O. Sternau voran: Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint. / Da sind zwei Herzen in Liebe vereint / Und halten sich selig umfangen.

Zum Kern der gesamten Sonate wird dieses Motto dadurch, dass Brahms das wunderbare As-Dur-Nachtstück des zweiten Satzes im Intermezzo des vierten Satzes wieder aufgriff. Er nannte diesen zweiten langsamen Satz Rückblick und transponierte darin das Andante-Thema nach b-Moll. Die beiden Sätze scheinen eine Liebesgeschichte anzudeuten, die sich im Andante nächtlich-zart entspinnt, im dritten Satz, einem gespenstischen f-Moll-Scherzo, auf dramatische Weise entlädt, bis sie im vierten Satz nur mehr als schmerzliche Erinnerung aufscheint. Dort wird die Melodie von den imaginären „Trommelwirbeln“ eines Trauermarschs in der linken Hand vielsagend begleitet. Die Ecksätze bilden zur Tragödie der Mittelsätze Prolog und Epilog.

Zu den heutigen Empfehlungen: Der deutsche Pianist Lars Vogt machte schon früh Karriere als Solist. 1990 belegte er den zweiten Platz beim Leeds Klavierwettbewerb und trat anschließend mit vielen großen Sinfonieorchestern auf. Auch als Dirigent machte er sich einen Namen und wurde 2019 Musikdirektor des Orchestre de chambre de Paris. Lars Vogt starb im September 2022 im Alter von nur 51 Jahren. Der Mitschnitt mit Brahms f-Moll-Sonate entstand 2007 im Rahmen des Verbier Musikfestivals:

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Zum Vergleich: Hélène Grimaud im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, aufgezeichnet im Jahr 2001. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb über dieses Konzert: „Sie spielt nicht nur Klavier – sie fühlt es und sie lebt es. Jede einzelne Note beweist ihre Hingabe zur Perfektion ... ihr unkonventioneller Stil zieht jeden im Publikum in seinen Bann.“ Als eine der besten Pianistinnen ihrer Generation begann ihre Konzertkarriere 1987, als sie Anfang Zwanzig war. Heute tritt sie mit großen Orchestern und in Recitals auf der ganzen Welt auf. Die Spontaneität ihres Spiels ist atemberaubend. Keine Angst davor zu haben, Risiken einzugehen und immer so zu spielen, als wäre es das erste Mal, lautet die Maxime von Hélène Grimaud:

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Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd