Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
bei der diesjährigen Last Night of the Proms stand ein Auszug aus dem heutigen Werk auf dem Programm - hier können Sie es in voller Länge erleben: Das Klavierkonzert Nr. 5 F-Dur op. 103 von Camille Saint-Saëns, das sogenannte "Ägyptische Konzert".
Warum Camille Saint-Saëns‘ fünftes und letztes Klavierkonzert diesen Beinamen erhalten hat, erschließt sich während der ersten zehn Minuten kaum. Der ganze erste Satz nimmt so gut wie keinen Bezug auf die Reiseerlebnisse des Komponisten, der übrigens sein ganzes Leben lang gern unterwegs war. 1896, also bereits mit mehr als 60 Jahren, weilte er in Kairo und Luxor und holte sich dort so manche Inspiration. Doch das Allegro animato, mit dem das Konzert beginnt, weiß davon noch nicht viel. Und übrigens auch wenig von der Epoche, in der es entstand: Es handelt sich um einen wunderbar romantischen Kopfsatz, konventionell, aber überaus ansprechend geformt, in dem sich Klavier und Orchester das Themenmaterial zuspielen und der Solist seine Virtuosität andeuten darf. Nur wer ganz genau hinhört, bemerkt, dass das Seitenthema ein ägyptisches Lied als Basis hat.
Der zweite Satz bietet einen der bemerkenswertesten Kontraste aus der gesamten Epoche der romantischen Solisten-Konzerte: Mit einem Mal (und mithilfe so mancher Pentatonik) befinden wir uns tatsächlich im Nahen Osten. Und auch der Ferne Osten ist gar nicht mehr weit. Saint-Saëns selbst beschrieb sein ästhetisches Programm: "Es ist eine Art Orientreise, die in der Episode in Fis-Dur sogar bis zum Fernen Osten vordringt. Die Passage in G-Dur ist ein nubisches Liebeslied, das ich von Schiffern auf dem Nil singen gehört habe, als ich auf einer Dahabieh den Strom hinuntersegelte." Wie meisterhaft diese Einflüsse hier mit bekannten Elementen der europäischen Kunstmusik (pianistisches Fließen à la Liszt, Orchesterklangfarben à la Brahms) verzahnt werden, ist aber ebenso bemerkenswert.
Zum Abschluss ist - der Komponist hat sich laut eigener Aussage gerade auf dem Nil befunden - eine Art Dampfschiff zu hören. Stetig und monoton arbeiten die Motoren, über denen die Streicher manch schwungvolle Salon-Melodien weben. In erster Linie aber findet der Solist hier eine Spielwiese. Er ist es, der den Satz mit einem tänzerischen Thema eröffnet und seine technischen Fähigkeiten ausspielen kann. Der Schluss ist angemessen feurig.
Die Uraufführung fand im Pariser Salle Pleyel in einem Festkonzert anlässlich des 50-jährigen Bühnenjubiläums von Saint-Saëns am 2. Juni 1896 statt. Der 61-jährige Komponist spielte wie in allen Uraufführungen seiner fünf Klavierkonzerte den Solopart selbst, der Dirigent war Paul Taffanel. Das Konzert wurde zu einem Triumph für den Komponisten. In einer Rezension hieß es: „Niemals haben wir ein farbenprächtigeres und faszinierenderes Oeuvre gehört; Rubens, Raffael und Michelangelo haben Pate gestanden, findet man in ihm doch Fantasie, Anmut und Kraft; und zugleich bewundert der Hörer diese unvergleichliche Form, die dieser größte Musiker unserer Zeit meisterhaft beherrscht, und diese wunderbare Imagination, die uns neue und einzigartig künstlerische Eindrücke vermittelt.“
Meine Wahl fällt heute auf zwei französische Pianisten - zunächst Bertrand Chamayou mit dem Orchestre national du Capitole de Toulouse unter der Leitung von Tugan Sokhiev, aufgezeichnet am 25. Oktober 2017 im Teatro Colón in Buenos Aires:
Und zum Vergleich Jean-Yves Thibaudet mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Andris Nelsons, aufgezeichnet am 16. November 2011 im Amsterdamer Concertgebouw:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler