Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück zählt zu den Schlüsselwerken der Musik des 20. Jahrhunderts: "The Unanswered Question" von Charles Ives - es dauert gerade einmal knapp sieben Minuten. Über dieses Werk zu informieren oder nachzudenken, kann leicht ein Vielfaches der Spieldauer bedeuten.
„The Unanswered Question“ wurde bereits 1906 komponiert und 1908 überarbeitet, doch erst nach 1930 übergab Charles Ives das Werk den Kopisten, und die Uraufführung fand erst am 11. Mai 1946 in der New Yorker Juilliard School statt. Bei dieser Gelegenheit leitete Theodore Bloomfield das Hochschulorchester.
Charles Ives führte in gewisser Weise ein Doppelleben, denn er war ein überaus erfolgreicher Versicherungsmakler, der sich in seiner Freizeit intensiv dem Komponieren widmete. Er war ein fast schon hektisch schaffender Komponist, der Mühe hatte, alle seine überquellenden musikalischen Gedanken zeitnah zu Papier zu bringen. Allerdings war er überhaupt nicht darauf bedacht, seine Eingebungen sogleich der Öffentlichkeit vorzustellen. So wirkte der „Vater der modernen amerikanischen Musik“ zeitweise eher im Verborgenen. Sein Schaffen ist aus zwei Gründen spektakulär zu nennen: Da ist zum einen die Radikalität seiner modernen Tonsprache, denn Charles Ives scherte sich nicht um Tradition, sondern suchte das Neue und bislang Ungehörte oder Unerhörte; zum anderen sind viele Stücke mit metaphysischem Gedankengut aufgeladen, was den Zugang zu dieser Art des Komponierens ebenfalls nicht erleichtert.
Das Orchesterstück „The Unanswered Question“ wirkt in seiner Vielschichtigkeit herausfordernd, andererseits ist es das bekannteste Werk dieses unkonventionellen Komponisten geworden. Dass es später zum meistgespielten Werk des Amerikaners Charles Ives wurde, ist wohl Leonard Bernstein zu verdanken. Bernstein hatte das Orchesterstück nicht nur wiederholt aufgeführt, sondern übernahm den Titel auch für seine sechsteilige Vorlesungsreihe, die er 1973 an der Harvard University hielt. Bernstein hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Orchesterstück eines komponierenden Einzelgängers um die Welt ging.
Charles Ives schrieb im Jahr 1906 zwei Stücke für Kammerorchester. „The Unanswered Question“ und „Central Park in the Dark“ wurden vom Komponisten als Gegensatzpaar konzipiert. Obwohl der Name „Two Contemplations“ („Zwei Betrachtungen“) als Gesamttitel vorgesehen war, werden die beiden Stücke meist einzeln aufgeführt.
Indem den einzelnen Ebenen verschiedene Bedeutung zukommt, stellt „The Unanswered Question“ einerseits die Frage nach dem Sinn des Lebens, doch taucht andererseits auch die Frage nach der Zukunft der Musik auf. Das Werk ist für Streicher, Trompete und vier Flöten geschrieben. In dem kurzen Stück kommt es zur Überlagerung dreier verschiedener Klangschichten. Die Streicher breiten einen statischen Klangteppich aus, der nur langsame Fortschreitungen und allenfalls Durchgangsdissonanzen kennt. Ruhig intoniert die Solotrompete hierüber siebenmal ein fragendes Fünftonmotiv, das weder Entwicklung noch tonartliche Gebundenheit zu kennen scheint. Als weitere Ebene kommen vier Flöten - Ives erlaubt auch die Besetzung mit zwei Flöten, Oboe und Klarinette - hinzu. Sie kommentieren das Fragemotiv der Trompete, spielen immer schneller und drängender. Der Holzbläserpart nimmt an Lautstärke zu, und auch die Klangschärfe steigert sich. Es werden immer höhere Tonregionen erreicht, die Dissonanzen werden immer schärfer, und es entsteht der Eindruck eines ungeordneten Nebeneinanders. Am Ende bleibt die Frage der Trompete von den Holzbläsern unkommentiert, nur der reine G-Dur-Akkord der Streicher klingt noch eine Weile nach.
Mit den folgenden Ausführungen hat Charles Ives das Programm seiner Komposition „The Unanswered Question“ erläutert: „Die Streicher spielen durchweg sehr leise ohne Tempowechsel. Sie sollen das ‚Schweigen der Druiden’ darstellen, ‚die nichts wissen, nichts sehen und nichts hören’. Die Trompete intoniert ‚die ewige Frage des Seins’. (...) Die Suche nach der ‚Unsichtbaren Antwort’, auf die sich die Flöten und andere menschliche Lebewesen nun begeben, wird immer drängender, schneller und lauter über ein animando bis zu einem con fuoco. (...) Im Verlauf der Zeit und nach einer ‚geheimen Besprechung’ scheinen die ‚Kämpferischen Antworten’ die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen einzusehen. (...) Nachdem die antwortenden Stimmen verklungen sind, wird ‚die Frage’ ein letztes Mal gestellt, und dann hört man ‚Stille’ in ‚Ungestörter Einsamkeit’.“
Charles Ives war fasziniert von den Ideen des amerikanischen Philosophen und Dichters Ralph Waldo Emerson (1803-1882) als wegweisendem Vertreter des Transzendentalismus. Doch auch wenn es in der Komposition um außermusikalische Dinge geht, wenn also existentielle Probleme angesprochen werden, so ist das Thema doch in gewisser Weise die Musik selbst. Weiter ist zu sagen, dass bei Ives formale Fesseln überwunden werden, indem vorgefertigte Modelle keine Rolle mehr spielen, der Inhalt jedoch neue Formen hervorbringt. Von hier aus ist es kein weiter Schritt mehr zum Hineinnehmen von Geräuschen in die Musik, etwa in der Komposition „Central Park in the Dark“. Das alles sind Elemente, die die Musik des 20. Jahrhunderts bald unmittelbar betreffen sollten. Charles Ives wurde deshalb zu einem visionären Neuerer der Musik.
Am Ende der Vorlesungsreihe an der Harvard University, die anschließend publiziert wurde, ihn aber ein Jahr Vorbereitung gekostet hatte, sagte Leonard Bernstein: „Ich bin mir nicht mehr sicher, wie die Frage lautete, aber ich weiß, dass die Antwort ‚ja’ ist.“
Hier also Charles Ives' "The Unanswered Question" mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada, der Mitschnitt entstand am 19. Januar 2018 in der Frankfurter Alten Oper:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler