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19.02.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 591

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

vor ein paar Wochen habe ich im Berliner Pierre Boulez Saal einen reinen Hugo-Wolf-Liederabend erleben dürfen - ein Komponist, mit dem ich mich immer schwer getan habe. Thomas Hampson und Wolfram Rieger machten es mir allerdings an diesem Abend sehr leicht, in die besondere Tonsprache des Komponisten einzutauchen.

Hugo Wolf studierte 1875-77 am Wiener Konservatorium und wurde durch eine Aufführung von Wagners "Tannhäuser" 1875 zum leidenschaftlichen Wagnerianer. Einige Monate lang war er Chordirigent und zweiter Kapellmeister am Salzburger Stadttheater und schrieb 1884-87 Musikkritiken im Wiener Salonblatt, in denen er vehement für Wagner, Liszt und Bruckner eintrat, während er Brahms sarkastisch verriss. Nach 1887 lebte er in ärmlichen Verhältnissen als freischaffender Komponist in Wien oder in Landhäusern von Freunden.

Nach einer Reihe wenig erfolgreicher Kompositionen folgten ab etwa 1883 erste, bereits reife Klavierlieder. Ab 1888 entstanden in einem knappen Jahrzehnt meisterhafte Liedersammlungen, komponiert jeweils in kurzen Phasen höchster Schaffensintensität, denen regelmäßig künstlerisch unfruchtbare Zeiten mit starken Depressionen folgten. Durch häufigere Aufführungen und regelmäßige Veröffentlichung seiner Werke in Druck (ab 1888) wurde ihm, vor allem in Deutschland, wachsendes Interesse entgegengebracht. Frühe Krankheitserscheinungen verstärkten sich ab Mitte der 1890er Jahre. 1897 brach eine progressive Paralyse vollends aus. Wolf kam in eine Heilanstalt, in der er, nach kurzer Unterbrechung 1898, bis zu seinem Tod blieb.

Hugo Wolf gilt heute nach Franz Schubert als einer der bedeutendsten Liedkomponisten des 19. Jahrhunderts und Maßstäbe setzender Wegbereiter für die nachfolgende Generation der Jugendstil-Komponisten wie Berg, Schönberg und Schreker. Seine einmalige Symbiose von Wort und Musik dient ihm als Stilmittel, um die Seelengemälde der Dichter zu klingenden Psychogrammen werden zu lassen, die auch auf den heutigen Hörer geradezu elektrisierend wirken. Wie besessen lief Wolf oft tagelang das jeweilige Gedicht laut rezitierend durch die Wohnung, bis er dem Text seismographisch das perfekt angepasste „Klavierkleid“ abgelauscht hatte. Die Gepflogenheit, seinen Hörern laut und eindringlich die Gedichte vor dem Vorspielen seiner Lieder vorzulesen, belegt, wie wichtig ihm die Worte waren. Lob ausschließlich für seine Musik ohne gleichzeitige Wertschätzung des Gedichts weckte bei ihm großes Unverständnis. Kein Liedkomponist vor ihm hat die Bedeutung der Dichtung so absolut in den Vordergrund gestellt. Die Sensibilität gegenüber dem Text ist ihm schöpferische Grundlage und gleichsam künstlerisches Credo.

Von dem eingangs erwähnten Liederabend stelle ich Ihnen heute die drei Zugaben vor, zunächst "Anakreons Grab" nach einem Text von Johann Wolfgang von Goethe mit Roderick Williams und Paul Lewis, aufgezeichnet am 19. August 2023 beim Prinsengracht-Konzert in Amsterdam:

www.youtube.com/watch

Zu den berühmtesten Liedern Hugo Wolfs zählt die Goethe-Vertonung "Der Rattenfänger" - das Lied ist hier in einer orchestrierten Fassung mit Thomas Hampson und der Amsterdam Sinfonietta zu erleben, der Mitschnitt entstand am 28. Januar 2014 im Amsterdamer Concertgebouw:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss noch "Abschied" nach einem Text von Eduard Mörike - ein besonders beliebtes Lied unter Sängern, da es sich an die Musikkritiker wendet: Dieser erhält am Schluss von seinem Widersacher einen sanften Tritt, purzelt die Treppe hinab und ward nicht mehr gesehen. Wolf bildet dieses Rumpeln geradezu lautmalerisch ab, um dann - ganz unschuldig - das Lied in einem Wiener Walzer enden zu lassen. Welch ein Triumph über den Kritiker - im Fortissimo! Hier ein Mitschnitt aus Stuttgart mit Maximilian Krummen und Kunal Lahiry vom September 2016:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd