Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
die heutige Oper ist Männersache - Frauen kommen in diesem Werk nicht vor: Benjamin Brittens "Billy Budd".
"Billy Budd" ist in der Musiktheatergeschichte außergewöhnlich: Eine Oper ohne Frauen, ohne klassische Liebesgeschichte - aber keineswegs ohne Liebe. Diese spiegelt sich im unschuldigen und enthusiastischen jungen Seemann Billy, der auf dem englischen Kriegsschiff "Indomitable" dient. Sein strahlender Charakter zieht jedoch den Hass des Waffenmeisters Claggart auf sich, der Billy aus Bosheit zu Unrecht der Meuterei beschuldigt. Als Billy sich nicht verteidigen kann, da er in Stresssituationen stottert, erschlägt er Claggart in einem Anfall von Verzweiflung. Obwohl Kapitän Vere von Billys Unschuld überzeugt ist, sieht er sich gezwungen, ihn zum Tod durch den Strang zu verurteilen - eine Entscheidung, die ihn für den Rest seines Lebens verfolgt. Den ausführlichen Inhalt finden Sie wie gewohnt am Ende dieser Ausgabe.
Die Oper basiert auf Herman Melvilles posthum veröffentlichter Erzählung "Billy Budd, Sailor". Sie spielt 1797 während des englisch-französischen Seekriegs. Melville, der die Brutalität des Lebens auf Kriegsschiffen aus eigener Erfahrung kannte, thematisierte diese in seiner Erzählung erneut. Britten beschloss 1948, den jungen Seemann ins Zentrum seiner neuen Oper zu stellen. Die Uraufführung am 1. Dezember 1951 im Londoner Royal Opera House, Covent Garden, wurde ein triumphaler Erfolg.
Bestimmte Themen tauchen in Brittens Werken immer wieder auf: Konflikte zwischen Individuen und Gesellschaft, die Leiden des Krieges, destruktive Konventionen und unterdrücktes erotisches Begehren. Die Figur Billy Budd ist mit all diesen Themen konfrontiert und erfährt, wie diese Probleme kulturelle Vorstellungen davon, was Männlichkeit ist, negativ beeinflussen, insbesondere in Bezug auf Homosexualität. Benjamin Brittens fast lebenslange Beziehung zu dem Tenor Peter Pears war ein offenes Geheimnis. Trotzdem litt der Komponist darunter, zu seiner Zeit war Homosexualität noch strafbar. Als Opernvorlage suchte er sich gern ein Stück Literatur, in dem die Frage der Sexualität unterschwellig angesprochen wurde. Theater- und Opernaufführungen wurden zensiert - was die Oper zum Thema Homosexualität beizutragen hat, wird in kodierter Form wiedergegeben. Aber in dieser Oper geht es auch darum, als Mensch in einer Welt zu leben, in der man letztlich allein ist, in der man sich danach sehnt, Zugehörigkeit zu empfinden, geliebt, Vergebung zu erfahren und angenommen zu werden.
Als "Billy Budd" 2001 an der Wiener Staatsoper erstmals aufgeführt wurde, war das Werk im deutschsprachigen Raum kaum bekannt. Die Premiere war schlecht besucht, trotz verbilligter Karten blieben viele Plätze leer. Doch nach dem Schlussvorhang war klar: Es handelte sich um ein einzigartiges Meisterwerk und eine herausragende Produktion, sowohl szenisch als auch musikalisch. Die positive Mundpropaganda und exzellente Kritiken sorgten dafür, dass die zweite Vorstellung ausverkauft war. Seither gilt das Stück, wie auch die Inszenierung, als Kult.
Regisseur Willy Decker gibt in dieser Inszenierung in den historisierenden Kostümen Wolfgang Gussmanns und in eindrucksvollen, bewusst verknappten Bühnenbildern die beklemmende Atmosphäre am Bord eines Kriegesschiffes während der Napoleonischen Kriege wieder, in dessen engem Kosmos die Frage nach Gerechtigkeit, Liebe und Vergebung auf ergreifende Weise verhandelt wird. Die Hauptpartien sind besetzt mit Neil Shicoff (Kapitän Vere), Bo Skovhus (Billy Budd) und Eric Halfvarson (John Claggart), Chor und Orchester der Wiener Staatsoper werden geleitet von Donald Runnicles:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Handlung
Akt 1
Kapitän Edward Fairfax Vere ist ein alter Mann. Er erinnert sich an die Zeit der Koalitionskriege gegen Frankreich: 1797, im Jahr der großen Meutereien, als Kommandant des Kriegsschiffes Indomitable, beging er einen großen, nicht wieder gutzumachenden Fehler...
Die Arbeit ist hart auf einem großen Kriegsschiff, dessen Mannschaft zum größten Teil aus Zwangsrekrutierten verschiedenster Gesellschaftsschichten besteht. Die besondere Unruhe unter den Männern geht auf die jüngsten Meutereien von Spithead und Nore zurück, wo die unmenschliche Behandlung durch die Offiziere zu einem Aufstand unter der Besatzung geführt hat. Die Spannungen werden deutlich, als Mr. Flint, der Navigationsoffizier, und der Bootsmann, ihre Autorität ausspielen und einen Neuling wegen einer Unvorsichtigkeit zu 20 Peitschenhieben verurteilen.
Ein Rekrutierungstrupp kehrt zurück von einer Aushebung. John Claggart, der Waffenmeister, mustert die drei Neuen. Der erste, Red Whiskers, protestiert gegen seine gewaltsame Rekrutierung und wird von Claggart zusammengeschlagen. Der zweite, Arthur Jones, nimmt sie eingeschüchtert hin. Nur der junge Billy Budd freut sich auf das Leben auf einem großen Kriegsschiff. Durch sein gutes Aussehen, seine Frische und Spontaneität gewinnt er sofort alle Herzen für sich. Er zeigt nur einen einzigen Fehler: immer, wenn er sich aufregt, verfällt er in krampfhaftes Stottern.
Billy Budd wird zum Dienst am Vortopp eingeteilt. Das ist mehr, als er erwartet hat. Fröhlich verabschiedet er sich von seinem früheren Schiff: "Leb wohl, Rights o’ Man!" Alle sind zutiefst irritiert. Das Wort "Menschenrechte" wurde durch die Französische Revolution zu einer Provokation für die royalistischen Engländer und steht für Seeleute gleich mit Meuterei. Claggart wird von den misstrauischen Offizieren beauftragt, ein Auge auf Billy Budd zu haben. Er zwingt den ihm hörigen Squeak, Billys Sachen heimlich zu durchwühlen, um ihn zu provozieren.
Der Neuling wird nach der Auspeitschung auf Deck zurückgebracht. Billy ist verstört über diese sinnlose Brutalität. Man warnt ihn vor dem heimtückischen Claggart. Kapitän Vere wendet sich mit einer mitreißenden Ansprache an seine Mannschaft, um sie auf den Kampf vorzubereiten. Die Männer sind bereit, für ihren Kapitän durchs Feuer zu gehen. Auch Billy ist begeistert: "Ich gäbe mein Leben für Euch, Sternen-Vere!" ruft er aus. Mit seinem Enthusiasmus wird er zu einer Identifikationsfigur für alle.
Kapitän Vere hat sich in seine Kajüte zurückgezogen, um zu lesen und nachzudenken. Er lädt die führenden Offiziere Mr. Redburn und Mr. Flint zu sich und trinkt mit ihnen auf den Sieg gegen Frankreich. Die beiden warnen ihn vor Billy Budd, der laut von Menschenrechten gesprochen hat und womöglich eine Meuterei plant. Doch Vere ist überzeugt, dass von diesem Jungen keine Gefahr ausgeht.
Als feindliches Land gesichtet wird, lassen die Offiziere den Kapitän allein. Billy entdeckt, wie Squeak sich an seinem Seesack zu schaffen macht. Es kommt zum Kampf zwischen Billy und Squeak. Claggart trennt die beiden. Eiskalt lässt er Squeak in Ketten legen.
Allein geblieben, lässt Claggart seine Maske fallen: Er ist von Neid und Hass gegen alles Gute und Schöne erfüllt. Dem jungen Billy fliegen alle Sympathien zu, er selbst jedoch kann sich die Dienste der anderen nur mit Gewalt erzwingen. Für die Vernichtung Billy Budds sucht er sich jetzt, nachdem Squeak versagt hat, den unglücklichen Neuling aus. Er soll Billy überreden, zum Anführer einer fingierten Meuterei zu werden.
Der verängstigte Neuling führt den Auftrag Claggarts aus. Als er den schlafenden Billy weckt und ihm das von Claggart zugesteckte Gold anbietet, beginnt Billy wieder zu stottern. Es löst sich erst, als Billy seinem Freund, dem alten Dansker, alles erzählen kann. Dansker weiß, dass dahinter nur Claggart stecken kann. Billy will das nicht glauben, er erwartet vielmehr eine Beförderung: hat doch der Waffenmeister ihn vor der ganzen Mannschaft gelobt.
Akt 2
Die Indomitable liegt in dichtem Nebel fest. Claggart beginnt mit seiner teuflischen Intrige: Er warnt den Kapitän vor einer Gefahr aus den eigenen Reihen. Das Gespräch wird jedoch unterbrochen, weil man ein feindliches Schiff gesichtet hat. Fieberhaft bereitet die Mannschaft einen Kanonenangriff vor. Unter dem Druck der Offiziere lässt Vere vorschnell einen Schuss auf das feindliche Schiff abfeuern. Wegen der zu großen Entfernung schlägt der Angriff jedoch fehl.
Alles war umsonst. Claggart und Kapitän Vere setzen ihr Gespräch fort, und der Waffenmeister beschuldigt Billy Budd, ein bezahlter Aufwiegler zu sein. Angewidert verlangt Vere, dass Claggart diese Anschuldigung in Billys Anwesenheit wiederholt. Billy kommt zu Vere. Doch statt einer Beförderung sieht er sich fassungslos der Anklage Claggarts gegenüber. Sein Stottern hindert ihn daran, sich zu verteidigen. Er kann sich nur durch einen Faustschlag helfen, der Claggart sofort tot zu Boden stürzen lässt. Der erschütterte Kapitän Vere ist von Billys Unschuld überzeugt.
Dennoch ruft er seine Offiziere, damit sie Gericht über Billy Budd halten. Die Strafe kann in Kriegszeiten nur lauten: Tod durch Erhängen. Vere selbst teilt Billy das Urteil mit. Billy erwartet seinen Tod. Von Dansker erfährt er, dass die Mannschaft ihn befreien will. Doch Billy ist bereit zu sterben. Die Mannschaft versammelt sich zur Vollstreckung des Urteils.
Im letzten Moment ruft Billy aus: "Sternen-Vere - Gott schütze Euch!" Erschüttert wiederholt die Mannschaft den Ausruf. Nach der Urteilsvollstreckung erhebt sich ein Murren. Doch die Persönlichkeit des Kapitäns lässt die Meuterei zusammenbrechen.
Im Epilog erkennt der alte Vere, dass er Billy zu Unrecht verurteilt hat. Doch Billys Vergebung hat ihn erlöst. Er schließt Frieden mit der Erinnerung.