Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück ist „Gaspard de la nuit“ von Maurice Ravel - Klavierstücke, die extrem virtuos und rätselhaft zugleich sind. Schon der Titel ist kaum zu übersetzen, er bedeutet etwa „Schatzhüter der Nacht“. Ein Schatz des Repertoires ist diese 1908 komponierte Musik allemal.
„Höre! Höre! Mein Vater schlägt das spritzende Wasser mit einem jungen Erlenzweig, und meine Schwestern liebkosen die kühlen Inseln der Gräser, Seerosen und Gladiolen mit ihren schäumenden Armen oder sie lachen über die morsche und bärtige, angelnde Weide.“ Worte wie Pfauenfedern - leicht, anmutig, voller Poesie. Zu Papier gebracht 1836 von Louis-Jacques-Napoléon, genannt Aloysius Bertrand, in jenem Buch, dem er den hermetischen Titel „Gaspard de la nuit“ gab. Maurice Ravel diente es als Inspiration für sein wohl bedeutendstes Klavierwerk.
Er bestand darauf, dass man Bertrands Versprosa jeweils als Vorwort zu den Noten der drei Solostücke abdruckte – vermutlich, um das enigmatische Werk verständlicher zu machen, auch wirkungsmächtiger. Der französische Komponist war auf den romantischen Stoff durch seinen Freund und Mitschüler am Pariser Konservatorium, Ricardo Viñes, gekommen; er besaß ein Exemplar der „Fantasien in Rembrandts und Callots Manier“ - so der vieldeutige Untertitel der Gedichtsammlung.
Beide, Ravel wie Viñes, gehörten bis 1914 dem Künstlerzirkel der „Apachen“ an, für den Ravel seine an Impressionen reichen Klavierwerke „Jeux d'eau“, „Miroirs“ und eben auch „Gaspard de la nuit“ komponierte. Letzterer war übrigens eine äußerst schwere Geburt: Das Werk, so rauschhaft es auch anmutet, entstand in einem monatelangen Ringen mit dem Sujet. Beleg ist ein Brief Ravels an die polnische Freundin Ida Godebska vom Juli 1908, in dem sein Verfasser nicht auf den für ihn so typischen Sarkasmus verzichten mag: „Nachdem er doch allzu lange im Mutterleib war, kommt "Gaspard de la nuit" jetzt endlich ans Tageslicht. Es hat teuflisch lange gedauert, aber da die Gedichte vom Teufel sind, ist das nur logisch.“
Die glitzernden, geschmeidigen Tonkaskaden im Bildnis der Nixe "Ondine", sie entwickeln und übertreffen die viel bewunderten Wasserkünste der "Jeux d'eau" (1901). "Le gibet", der Galgen, das langsame Mittelstück, beschwört eine grausige Szene: Eine sinkende Sonne bescheint die im Abendwind pendelnden Gebeine eines Gehenkten vor den Mauern einer mittelalterlichen Stadt, während in der Ferne die ganze Zeit über die Armesünderglocke läutet. Ravel erfasste meisterlich jene makabren, verdüsterten Stimmungen, die einem Debussy wie überhaupt der französischen Schule nicht besonders lagen. Den pianistischen Höhepunkt bietet "Scarbo", das Porträt eines bösartigen Poltergeists, mit dem Ravel ein Werk schaffen wollte, das schwieriger war als Balakirews "Islamey", das damals als virtuoses Nonplusultra galt.
Zwei Mitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Auswahl, zunächst Lucas Debargue, der Ravels Virtuosenstücke am 21. August 2016 im Tippet Rise Art Center in Montana spielte:
Zu den Klassikern der Studio-Einspielungen zählt bei diesem Werk die Aufnahme mit Ivo Pogorelich aus dem Jahr 1983, die Sie hier im Vergleich sehen können:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler