Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
in der heutigen Ausgabe erwartet Sie das Violinkonzert Nr. 2 von Béla Bartók.
Was tun, wenn ein Kompositionsauftrag ins Haus flattert und der Auftraggeber die erste Konzeption ablehnt, weil er sich etwas grundlegend Anderes wünscht? Entweder entnervt hinwerfen - oder die Herausforderung erst recht annehmen? Für letztere Variante entschied sich Béla Bartók, als er für den ungarischen Geiger Zoltán Székely sein zweites Violinkonzert schreiben sollte. Bartók hatte eine zündende Eingebung: Warum nicht einen einzigen großen Variationssatz komponieren, mit großer musikalischer Bandbreite - und so den großen Violinkonzerten der Romantik ebenbürtig? Für den traditionsbewussten Székely kam diese Konzeption jedoch keineswegs infrage. Er beharrte auf der üblichen Konzertform mit drei klar voneinander abgegrenzten Einzelsätzen. Wie also bei dieser Vorgabe die ursprüngliche Idee retten? Bartóks zweiter Entwurf ist noch ambitionierter: Ein Variationssatz steht in der Mitte und ist eingefasst vom ersten Satz, der kontrastreiche musikalische Gedanken vorstellt, und vom dritten Satz, der diese Gedanken aufgreift und seinerseits variiert. Und so gelang Bartók das Kunststück, seinen Auftraggeber zufriedenzustellen und seine Ursprungsüberlegung auf ein noch komplexeres Level zu heben.
Als imaginäre Überschrift könnte über diesem 2. Violinkonzert stehen: Synthese. Und zwar nicht nur Synthese des musikalischen Materials, sondern vor allem Synthese von Bartóks kompositorischer Lebenserfahrung. In jungen Jahren startete der Komponist als Spätromantiker in der Nachfolge von Richard Strauss. Dann entdeckte er für sich die Volksmusik und räumte ihr in seinen Werken einen hohen Stellenwert bei. In den 1920er und frühen 1930er Jahren zählte er dann zur musikalischen Avantgarde, indem er beißende Harmonien mit hochkomplexen Rhythmen kombinierte. Jetzt, als er 1937/38 das 2. Violinkonzert schreibt, gelangt er zu einem altersweisen Stil und söhnt ambitionierte musikalische Ideen mit der spätromantischen Tradition aus: Komplexe Zwölftonreihen und sogar Viertelton-Passagen in der Solo-Violine stehen neben purer Klangschönheit.
Fast zwei Jahre lang schrieb Béla Bartók an seinem zweiten Violinkonzert, ungewöhnlich für ihn, der das "Divertimento" in 16 Tagen oder das fünfte Streichquartett in einem Monat zu Papier brachte. Es entstand von August 1937 bis zum 31. Dezember 1938 - kurz vor Bartoks Emigration in die Vereinigten Staaten angesichts des immer bedrückenderen politischen und gesellschaftlichen Klimas in Ungarn. Das Violinkonzert etablierte sich schnell nach der Uraufführung am 23. März 1939 mit Zoltán Székely unter der Leitung von Willem Mengelberg im Amsterdamer Concertgebouw als eines der zentralen Violinkonzerte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Mitschnitt der Uraufführung ist eine der wenigen Premieren, die von Mikrophonen dokumentiert wurde und bis heute zu den herausragenden Interpretationen dieses Werkes zählt.
Über das Ende von Bartóks zweitem Violinkonzert war Zoltán Székely als Auftraggeber nicht sehr erfreut, denn der Solist kam gar nicht mehr zum Zuge. Deshalb bat er den Komponisten, einen anderen Schluss zu komponieren und Bartók schrieb eine zweite Version des Schlusses, in dem die Solovioline bis zum letzten Ton im Mittelpunkt steht. Aber egal, für welche Schlussvariante sich der Solist heute entscheidet: Bartóks zweites Violinkonzert bleibt eines der bedeutendsten und meistgespieltesten Werke des 20. Jahrhunderts.
Unser heutiger Mitschnitt kommt aus Dänemark. Augustin Hadelich musizierte das Violinkonzert am 4. Mai 2017 mit dem Danish National Symphony Orchestra unter der Leitung von Vasily Petrenko im Konzerthaus Kopenhagen:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler