Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
"Ballett im Advent" geht bereits in die dritte Runde - auch heute steht noch einmal ein Märchenballett von Peter Tschaikowsky auf dem Spielplan: Dornröschen op. 66
"Dornröschen", Tschaikowskys zweites Ballett, ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein Werk der Superlative. Mit knapp drei Stunden Gesamtlänge ist es vom Umfang her nicht nur unter Tschaikowskys Werken ein Spitzenreiter. Auch in Bezug auf die Anzahl der Darsteller ist dieses Ballett groß dimensioniert: Allein über 50 solistische Rollen müssen besetzt werden, und selbst bei Übernahme mehrerer Rollen durch einen Tänzer bleibt ein enormer Bedarf an Ausstattung (z. B. Kostüme), von der restlichen Größe des Ensembles und der großen Orchesterbegleitung ganz zu schweigen. "Dornröschen" war zu Lebzeiten Tschaikowskys sein erfolgreichstes Ballett; nach knapp zwei Jahren konnte der Komponist der 50. Aufführung in St. Petersburg beiwohnen.
Musiker bescheinigen "Dornröschen" darüber hinaus die höchste kompositorische Qualität. Mehr als "Schwanensee" und "Der Nussknacker" ist "Dornröschen" sinfonisch gearbeitet, breiter angelegt in der musikalischen Aussage, sehr differenziert in der Motivgestaltung der Charaktere und besticht vor allem durch die Kongruenz von musikalischer Aussage und Handlungsinhalt. Auch Tschaikowsky, obwohl sehr selbstkritisch, war sich der Qualität seiner Arbeit bewusst und hielt "Dornröschen" nicht nur während des Kompositionsprozesses, sondern auch später für eines seiner besten Werke.
1888 gab das kaiserlich-russische Theater bei Tschaikowsky ein abendfüllendes Ballett in Auftrag und schlug für das Szenario das von Charles Perrault im 17. Jahrhundert aufgezeichnete Märchen "La belle au bois dormant“ vor. Der Komponist war vom Sujet so begeistert, dass er nur 40 Tage für den Entwurf brauchte. Das Ergebnis ist eine Partitur, die Musik für großartige Panoramen, für lyrische Besinnlichkeit, aber auch für detaillierte Charakterisierung sowohl der Haupt- als auch der kleinen Nebenrollen enthält. Am 15. Januar 1890 wurde "Dornröschen" am Mariinsky-Theater in St. Petersburg uraufgeführt. Trotz der hohen Produktionskosten - für die Uraufführung wurden 80.000 Rubel veranschlagt - galt das Werk lange Zeit als Meilenstein des russischen Balletts. Heute findet man "Dornröschen" seltener im Repertoire als "Schwanensee" und "Der Nussknacker", was sicherlich nicht nur an den Produktionskosten und der langen Aufführungszeit liegt. Mit der Angabe „A Mr Jean Wséwolojsky“ hat Tschaikowsky das Werk seinem Librettisten und Auftraggeber gewidmet.
Hier erwartet Sie heute eine Aufführung mit dem Leipziger Ballett: Uwe Scholz, der frühere Ballettdirektor der Leipziger Oper, sah in Tschaikowskys "Dornröschen" eine "märchenhafte Herausforderung" und begab sich in seiner Inszenierung auf die Suche nach dem Zauber der Kindheit. Scholz verzichtete bewusst auf jede psychologisierende Neudeutung, sondern inszenierte unangestrengt und mit leichter Hand. Er erzählte sein "Dornröschen" im Sinne des Perraultschen Märchens. Die TV-Erstausstrahlung hat der schwer erkrankte Scholz nicht mehr erlebt, er starb am 21. November 2004.
Scholz führt das Stück weg vom romantischen Ballett hin zu einer ironisierten und verspielten Ballett-Revue. Bewusst wählt er dazu eine naive Erzählweise, bei der das Märchen Märchen bleiben darf. Keineswegs naiv konstruiert Scholz jedoch sein Ballett: Gleich einem Conferencier lässt die Fliederfee die Handlung geschehen und führt alle Beteiligten nicht geradlinig, aber doch zielsicher zum Happy End. Die Ausstattung bemüht in geradezu überdrehter Form das französische Hochbarock. Mit mehr als 300 verschiedenen Kostümen schenkt sich Kostümbildner Toni Businger kein Detail und beeindruckt weniger durch luxuriösen Überschwang als durch eine verspielte Phantasie, die dem Märchen als Ballett-Revue ihrerseits die notwendige Farbenpracht verleiht. Nicht zuletzt dadurch unterstützt er Scholzens "Dornröschen" in seiner zeitlosen Gültigkeit als Märchen. Es tanzen Oksana Kulchytska (Prinzessin Aurora), Joan Boix (Prinz Désiré), Maiko Oishi (Fliederfee), Kiyoko Kimura (Carabosse) und das Leipziger Ballett, es spielt das Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Robert Reimer:
Ihnen allen ein schönes drittes Adventswochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Handlung
Prolog
Nach langer Zeit der Kinderlosigkeit ist dem König und der Königin ein Kind geboren worden. Zur Taufe ihres Töchterchens geben sie ein glänzendes Fest. Eingeladen sind auch sechs Feen, die der kleinen Prinzessin Geschenke und gute Wünsche überbringen. Die kleinen Begleiter der Feen überreichen Aurora Rosenbäumchen. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel und unter Donner und Blitz erscheint die Fee Carabosse. Der Haushofmeister Catalabutte schaut erschrocken auf der Liste der eingeladenen Gäste nach und sieht mit Entsetzen, dass er vergessen hat, sie zur Taufe einzuladen. Voller Zorn über diese Missachtung spricht Carabosse anstelle von guten Glückwünschen einen Fluch über das Kind aus: An ihrem 16. Geburtstag soll sich die Prinzessin an einer Spindel stechen und daran sterben. Das allgemeine Entsetzen wird durch die Fliederfee gemildert, die den Fluch der bösen Fee umwandelt: Aurora wird nach dem Stich mit der Spindel in einen hundertjährigen Schlaf fallen, aus dem sie von einem jungen Prinzen durch einen Kuss wieder geweckt wird.
Zwischenszene
Die Jahre vergehen und Aurora wächst heran, geschützt und begleitet vom Segen der Fliederfee. Carabosse verliert die kleine Prinzessin keinen Moment lang aus den Augen, immer darauf wartend, dass sich der böse Wunsch erfüllt.
1. Akt: Auroras Geburtstag
Zu Auroras 16. Geburtstag kommen vier Prinzen, die um die junge Prinzessin werben. Die Rosenbäumchen, die Aurora an ihrem Tauffest geschenkt bekam, sind zu stattlichen Hecken geworden. Ein Geschenk der Fee Carabosse erregt ihre besondere Freude: ein Rosenstrauß. Sie ahnt nicht, dass die böse Fee in ihm eine Spindel versteckt hat. Ehe sie sich versieht, sticht sie sich daran, und Carabosse erlebt die Erfüllung ihres Fluches: Die Prinzessin fällt wie tot zu Boden. Doch die Fliederfee verwandelt den Tod in tiefen Schlaf. Alles im Schloss schläft ein und eine hohe Dornenhecke umwächst das Schloss und den Garten. Die Fliederfee breitet ihren Segen über die Schlafenden aus und gibt ihnen Schutz.
2. Akt: 100 Jahre später: Jagdszene, Prinz Desirés Vision und Auroras Erwachen
Prinz Desiré befindet sich mit großem Gefolge auf der Jagd. Als sich die Jagdgesellschaft in einiger Entfernung von ihm befindet, erscheint ihm die Fliederfee. Sie verschafft ihm eine Vision von Prinzessin Aurora, deren Anblick ihm von Anfang an das Herz verzaubert. Die Fliederfee macht dem Prinzen deutlich, dass er sich in der Nähe seines Glückes aufhält – und zeigt ihm die Schlafende. Carabosse versucht ihn von ihr fernzuhalten, doch mit Hilfe der Fliederfee schafft er es, die böse Fee zu überlisten. So nimmt er die schlafende Schöne, ganz von ihrem Liebreiz gefangen, in die Arme und weckt sie mit einem Kuss auf. Dieser Kuss und die Liebe der beiden zueinander ist die stärkste Kraft gegen die Bosheit von Carabosse. Die Hofgesellschaft erwacht aus hundertjährigem Schlaf.
3. Akt: Auroras Hochzeit
Die Hochzeit von Prinzessin Aurora mit Prinz Desiré wird als glanzvolles Kostümfest gefeiert. Die ganze Hofgesellschaft hat sich aus diesem Anlass als Märchenfiguren verkleidet. Auf dem Höhepunkt des Festes tanzen Aurora und Prinz Desiré einen großen Pas de deux. Die Fliederfee gibt ihren Segen zu der Vereinigung der beiden Liebenden. Aus der Ferne beobachtet Carabosse sie neidvoll und lauernd. Das Böse existiert weiter.