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11.08.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 811

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

einen Tag früher als gewohnt das Musikstück zum Wochenende - eine Oper, die nur selten auf den Spielplänen zu finden ist: "Die tote Stadt" von Erich Wolfgang Korngold.

"Die tote Stadt" ließ Erich Wolfgang Korngold neben Richard Strauss zum meistgespielten Opernkomponisten Deutschlands der 1920er Jahre werden. Erzählt wird die Geschichte von einer Reise ins Ich, bei der Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Korngolds Musik bringt das psychologische Drama zu voller Entfaltung, sein Kompositionsstil ist unverkennbar erzählerisch und emotional. Arien wie „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“ gehören wegen ihrer melodischen Eindringlichkeit zum Konzertrepertoire zahlreicher Opernsänger und strahlen weit über die Bekanntheit dieser Oper hinaus.

Zunächst als "Appetizer" die beiden erwähnten Arien, zunächst Mariettas Lied "Glück, das mir verblieb" mit Renée Fleming und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Alan Gilbert, aufgezeichnet am 13. Juli 2019 auf dem Münchner Odeonsplatz:

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Und: "Mein Sehnen, mein Wähnen", hier zu sehen mit Thomas Hampson und dem Orchestra of St. Luke's, aufgezeichnet am 1. März 1995 in der Avery Fisher Hall im New Yorker Lincoln Center: 

www.youtube.com/watch

Hamburg und Köln, 4. Dezember 1920. Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" wird zeitgleich in beiden Städten uraufgeführt. Korngold ist 23 Jahre alt, aber längst kein Unbekannter mehr. Vier Jahre ist es her, dass der Münchner Generalmusikdirektor Bruno Walter Korngolds Einakter "Der Ring des Polykrates" und "Violanta" mit großem Erfolg aus der Taufe gehoben hat. Doch schon zuvor verschlug die musikalische Frühreife des Wunderkindes dem Wiener Musikleben die Sprache. "Die tote Stadt" wird endgültig ein Welterfolg. Die europäischen Bühnen reißen sich um das Stück, 1921 greift auch die Metropolitan Opera zu.

Der Roman "Brügge – tote Stadt" des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach war eine ideale Vorlage. Für den Stoff interessierte sich auch Giacomo Puccini, der übrigens schwer beeindruckt war vom jungen Korngold, er bezeichnete ihn als „die stärkste Hoffnung der neuen deutschen Musik“. Die Geschichte kreist um einen Witwer, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann und glaubt, ihr in Gestalt einer höchst erotischen jungen Tänzerin wieder zu begegnen. Dass er diese schließlich in einer alptraumhaften Vision erwürgt, um der geliebten Toten treu zu bleiben, wirkt leicht kolportagehaft, gleichwohl inspirierte Korngold das Ganze zu einer genialen, rauschhaft in allen Orchesterfarben schillernden Partitur, die die Grenzen der Tonalität faszinierend auslotet, doch nie überschreitet.

Zurecht hörte Korngolds maßgeblich am Libretto beteiligter Vater, der Musikkritiker Julius Korngold, "das tote Brügge mit seinen verlassenen Kanälen, … seinen prunkenden kirchlichen Aufzügen, dazu der Kontrast einer übermütigen Komödiantengesellschaft, verruchter Verführungen durch blutvolle Sinnlichkeit, dämonisch-rauschhafte Tänze. Alles zwischen Traum und Wirklichkeit schwankend, in den Nebel der Vision gehüllt".

"Die tote Stadt" ist das Werk eines Genies. Dass Erich Wolfgang Korngold als Jude keine 20 Jahre später von den Nazis in die Emigration getrieben wurde und Europa ihn nicht nur an die Filmmusik in Hollywood verlor, sondern seine Musik nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent ignorierte, ist der traurige Schlussakkord in der Karriere dieses Wunderkindes. Seit den 1970er Jahren werden seine Werke an vielen deutschen und internationalen Bühnen mit großem Gewinn wiederentdeckt.

Zwei Aufführungen aus Berlin empfehle ich Ihnen heute, zunächst die Debüt-Inszenierung des kanadischen Starregisseurs Robert Carsen an der Komischen Oper Berlin aus dem Jahr 2018. Die Hauptpartien sind besetzt mit Aleš Briscein (Paul), Sara Jakubiak (Marietta) und Günter Papendell (Frank), es spielt das Orchester der Komischen Oper Berlin unter der Leitung von Ainārs Rubiķis:

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Zum Vergleich eine Aufführung der Deutschen Oper Berlin aus dem Jahr 1983, die Inszenierung stammt von Götz Friedrich. In den Hauptpartien sind zu erleben James King (Paul), Karan Armstrong (Marietta) und William Murray (Frank). Das Orchester der Deutschen Oper Berlin spielt unter der Leitung von Heinrich Hollreiser: 

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Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler


Handlung

1. Akt 
Nach dem Tod seiner Frau Marie hat sich Paul in sein Haus zurückgezogen. In einem Zimmer, das er "Kirche des Gewesenen" nennt, bewahrt er alles auf, was ihn an Marie erinnert, auch ihre wunderschönen langen Haare. Pauls Freund Frank erfährt durch die Haushälterin Brigitta vom Tod Maries. Paul kommt dazu und berichtet euphorisch von seiner Begegnung mit einer Unbekannten, in der er seine verstorbene Frau wiederzuerkennen meint. Als sie ihn besucht, entdeckt Paul, dass sie Marietta heißt und Tänzerin ist. Realität und Wunschdenken verschwimmen für Paul und nachdem sie weggegangen ist, erscheint ihm seine tote Frau, die ihn an ihre gegenseitige Liebe erinnert und seine Treue fordert.

2. Akt 
Pauls Obsession in Marietta steigert sich. Auf dem Weg zu ihr begegnet Paul Brigitta, die sich aus Enttäuschung über die Affäre von ihm abgewandt hat. Als Paul danach auf Frank stößt, gesteht dieser, dass er und Marietta ein Verhältnis haben. Im Streit kündigt Frank ihre Freundschaft auf. Aus einem Versteck beobachtet Paul, wie Marietta im Kreise ihrer Tänzerfreunde und Liebhaber die Totenerweckung der Helene im Ballett aus Giacomo Meyerbeers Oper "Robert, der Teufel" nachspielt. Eingeholt von der Vergangenheit platzt Paul dazwischen und offenbart Marietta, dass er in ihr nur seine tote Marie gesucht hat. Marietta gelingt es, Paul aufs Neue zu verführen, und besteht darauf, dass sie sich diesmal in seinem Haus und in Maries Bett lieben.

3. Akt
In Pauls Haus fühlt Marietta, dass sie über ihre tote Rivalin triumphiert hat. Paul sieht ekstatisch einer Prozession zu, die an seinem Haus vorbeizieht. Marietta verhöhnt ihn wegen seiner Frömmigkeit und provoziert ihn immer weiter, indem sie mit Maries Reliquien einschließlich ihren Haaren spielt. Paul wirft sie zu Boden und erdrosselt Marietta mit Maries Haaren. Da kündigt Brigitta die Wiederkehr von Marietta an, die einen Strauß Rosen vergessen hat. Auch Frank kehrt zurück und bittet Paul, mit ihm zu gehen und die tote Stadt zu verlassen.

Beitrag von sd