Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
ein schicksalhaftes Werk von Gustav Mahler erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: „Das Lied von der Erde“ steht in seinem sinfonischem Schaffen an neunter Stelle - für den abergläubischen und damals bereits todkranken Komponisten ein Moment des Zweifelns.
„Haben Sie eine Ahnung wie man das dirigieren soll? Ich nicht!“, fragte der Dirigent und Mahler-Vertraute Bruno Walter den Komponisten, nachdem er die soeben fertiggestellte Partitur von dem mit „Der Abschied“ betitelten letzten Satz von „Das Lied von der Erde“ studiert hatte. Mahlers Antwort darauf ist nicht überliefert - Walters Reaktion jedoch im Hinblick auf die emotionale Tiefe des Werkes nachvollziehbar. Obgleich das zwischen Sinfonie und sinfonischen Liederzyklus schwankende Werk in einer denkbar angenehmen Umgebung entstand, legte Mahler mit „Das Lied von der Erde“ seine bis dato persönlichste wie ergreifendste Kompositionen vor. Sein Aberglaube könnte ein Indiz für den Namen des Werkes liefern.
Im idyllisch gelegenen Südtiroler Toblach steht es noch heute - Gustav Mahlers hölzernes Komponierhäuschen. Hier, umgeben von alpenländischer Natur und gänzlich zurückgezogen vom bunten Wiener Musikleben, verbrachte der zu den bedeutendsten Komponisten der Spätromantik gehörende Mahler seine Sommermonate zwischen 1907 und 1910. Doch anders als man es bei einer derartiger Umgebung vermuten würde, ist besonders das Jahr 1907 eine Zeit geprägt von Schicksalsschlägen und beruflichen Bürden.
Besonders hart traf Mahler der Verlust seiner älteren Tochter Maria Anna, die vierjährig an Diphterie starb, gleichzeitig musste er seinen Posten als Direktor der Wiener Hofoper räumen, nachdem ihn eine antisemitisch-geprägte Pressekampagne gegen seine Person zu diesem Schritt regelrecht zwang. Zu allem Überfluss erreichte Mahler zur selben Zeit die Diagnose einer schweren Herzerkrankung, an der er wenig später sterben sollte. Dass diese Begleitumstände sich in der Komposition "Das Lied von der Erde“ niederschlugen, verwundert daher kaum.
Insgesamt steht „Das Lied von der Erde“ am Beginn von Mahlers letzter Schaffensperiode, die schlussendlich zu der Aufgabe der Tonalität in seiner darauffolgenden neunten Sinfonie führte, sich hier jedoch lediglich erst andeutet. Warum Mahler die Komposition nicht in sein nummeriertes Sinfonieschaffen übernahm, ist bis heute ungeklärt, gleichwohl deutet er aber in erhaltenen Briefen an, dass er aufgrund der Anlage des Werkes mit der Bezeichnung Sinfonie haderte. In insgesamt sechs Sätzen vertont Mahler, durch seine persönliche Situation inspiriert, sieben Texte aus Hans Bethges Gedichtsammlung „Die chinesische Flöte“.
1907 war im Insel-Verlag diese Sammlung erschienen. Sie versammelt freie Nachdichtungen von chinesischer Lyrik aus dem 8. Jahrhundert, vor allem von Li-Tai-Po (Li Bai), über den Bethge schreibt: "Er dichtete die verschwebende, verwehende, unaussprechliche Schönheit der Welt, den ewigen Schmerz und die ewige Trauer und das Rätselhafte alles Seienden." Es war wohl dieser Tonfall, von dem Mahler sofort angezogen wurde. Bald, nachdem ihm ein Freund das Büchlein schenkte, machte er sich an die Vertonung. Wie im wirklichen Leben steuert auch „Das Lied von der Erde“ in seinem letzten Satz auf den unausweichlichen Abschied. Die Mischung aus todwunder, klangsatter Schwermut und leichter, teils kammermusikalischer Eleganz macht den besonderen Charakter dieses Werks aus, das Mahler "wohl das Persönlichste, was ich bis jetzt gemacht habe" nannte.
In den sechs Sätzen - drei für Tenor, drei für Alt oder Bariton - geht er mit der Textvorlage recht frei um. Zur musikalischen Ausgestaltung greifen nur die Mittelsätze 3 und 4 einen "milieutreuen" Exotismus auf. Das "Trinklied vom Jammer der Erde" setzt mit einem wildbewegten Fanfarenruf des Horns gleich ein Ausrufezeichen. Leben und Tod sind verschwistert. Auf der Seite des Lebens stehen Gesang, Trinken, Lautenspiel. Grelle Bilder erscheinen im Rausch. Sie kontrastieren mit dem ruhigen Refrain: "Dunkel ist das Leben, ist der Tod".
"Der Einsame im Herbst" findet im Welken und Absterben der Natur ein Gleichnis für den Seelenzustand: "Der Herbst in meinem Herzen währt zu lange". Der Tod erscheint als ersehnte Stätte von Frieden und Heimat. Anders als im massiv instrumentierten ersten Lied herrscht hier kammermusikalische Durchsichtigkeit. Nur einen leidenschaftlichen Ausbruch erlaubt Mahler in dieser zurückhaltenden Todesmeditation - der aber greift ans Herz: "Sonne der Liebe, willst du nie mehr scheinen". "Von der Jugend" erscheint als Chinoiserie-Miniatur: Hier nähert sich Mahler am ehesten einer fernöstlichen Aura. Die pendelartige auf- und niedersteigende Linie ist pentatonisch, also nach dem fünftönigen System gebildet, das vielen außereuropäischen Musikkulturen zugrundeliegt. Kaum werden die Bassinstrumente eingesetzt – die Schwerelosigkeit der wellenförmigen Bewegung unterstützt das textliche Bild des Pavillons, der auf dem Kopf steht. Auch "Von der Schönheit" atmet die "blumenhafte Grazie", die Hans Bethge so an den chinesischen Gedichten bewunderte. Das zarte Genrebild der anmutigen Mädchen wird nur durch einen atemlosen, marschartigen Mittelteil aufgestört. Li-Tai-Po war, wie Hans Bethge schreibt, "ein Abenteurer und Trinker". In "Der Trunkene im Frühling" hallte für Mahlers Zeitgenossen auch Friedrich Nietzsche nach: Welterkenntnis durch Rauschzustand und Einflüsterungen der Natur (hier im Zwiegespräch mit dem Vogel). Der Scherzocharakter wird durch die burleske Instrumentation mit Trillern, Pizzicati und lustigen Vorschlägen unterstrichen.
"Der Abschied" ist das weitaus längste Lied - ein überwältigender Abgesang, ein zeit- und raumloser Abschied von der Liebe und dem Leben. "Ist das überhaupt zum Aushalten? Werden sich die Menschen nicht danach umbringen?", fragte sich Mahler. Alle vorhergehenden Distanzierungen durch Burleske, Ironie oder Exotismus werden aufgehoben. Es ist eine musikalische Erzählung vom Sterben, die sich viel Zeit nimmt. Immer wieder gerät sie ins Stocken, unterbrochen von dem Tam-Tam-Schlägen des Todes: "Die Welt schläft ein". Mahler fügte Zeilen aus einem eigenen Jugendgedicht ein: "Die müden Menschen gehn heimwärts, um im Schlaf vergessnes Glück und Jugend neu zu lernen". Die kaum zu ertragende Sehnsucht nach dem Gefährten mündet in einen schwer lastenden Trauermarsch. Danach ändert sich der Ausdruck: Der Freund antwortet sehr weich und ausdrucksvoll. Die erstarrte Trauer weicht einem warm strömenden Gesang, der die Gewissheit des Todes ruhig akzeptiert. Die Farben von Mandoline und Celesta kommen hinzu, für Mahler Klangsymbole der Weltentrücktheit. Das mehrfach wiederholte Wort "ewig" steht am Schluss, immer weiter gedehnt, sich ins Unhörbare auflösend. "Gänzlich ersterbend" schreibt Mahler über die Schlusstakte, die harmonisch gesehen keine auflösende Wirkung haben, sondern in einer milden Dissonanz stehenbleiben. Die Grenze zwischen Klang und Stille verwischt. Leben geht in Tod auf.
Kein Wunder also, dass der abergläubische Mahler das Werk nicht als Sinfonie Nr. 9 betiteln wollte - schließlich waren es Beethoven und Bruckner, die kurz nach, beziehungsweise während der Arbeit an ihrer jeweils neunten Sinfonie verstarben. Als hätte er es vorausgesehen, sollte seine anschließend komponierte neunte Sinfonie sein letztes Werk der Gattung bleiben - die zehnte Sinfonie blieb unvollendet.
Obwohl Mahler "Das Lied von der Erde" bereits drei Jahre vor seinem Tod vollendet hatte, sollte er weder die Drucklegung noch die Uraufführung erleben. Im November 1911, ein halbes Jahr nach Mahlers Tod, erklang das Werk erstmals unter Bruno Walter in München im Rahmen einer Gedächtnisfeier. "Es ist so wie das Vorbeiziehen des Lebens, besser des Gelebten in der Seele des Sterbenden", sagte der Augenzeuge Anton Webern.
So einzigartig wie die formale Gestaltung des Werks, so extrem sind die Anforderungen an seine Interpreten: Es bedarf zweier gestandener Liedsänger, die im Zusammenwirken mit dem riesigen Orchesterapparat ebenso als Solisten hervortreten, wie sie sich als konzertierende Stimmen in das sinfonische Gefüge mit einzuordnen vermögen. Es bedarf eines ausgezeichneten, bestens aufeinander abgestimmten Klangkörpers, und natürlich einer Dirigentenpersönlichkeit, die für Zusammenhalt sorgt und der Großform Geist und Beseeltheit verleiht.
Alle diese Parameter fügten sich bei Konzerten zusammen, die am 25. und 26. Januar 2018 im Herkulessaal der Münchner Residenz aufgezeichnet wurden. Magdalena Kožená, Stuart Skelton, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Simon Rattle ist meine erste Konzertempfehlung für heute:
Zum Vergleich: Anna Larsson, Robert Dean Smith und das Concertgebouworkest Amsterdam mit Bernard Haitink, aufgezeichnet im Concertgebouw Amsterdam:
Und zum Abschluss: Keine Mahler-Empfehlung ohne Leonard Bernstein! Christa Ludwig, René Kollo und das Israel Philharmonic unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet 1972 im Frederic R. Mann Auditorium in Tel Aviv:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler