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14.07.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 800

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

anlässlich der heutigen Jubiläumsausgabe habe ich ein Werk ausgewählt, das mir besonders am Herzen liegt: Leonard Bernsteins Sinfonische Tänze aus "West Side Story".

26. September 1957, New York, Broadway. Leonard Bernsteins Musical "West Side Story" geht zum ersten Mal über die Bühne. Als Plädoyer für Verständnis und Toleranz, so sah Bernstein seine "Romeo und Julia"-Version. Ganze acht Jahre sollte es von der Idee bis zum fertigen Musical dauern - von der "East Side Story" bis zur "West Side Story".

Bereits 1949 gab es die ersten Gespräche. Der Choreograph und Tänzer Jerome Robbins bot Leonard Bernstein einen Stoff an, der auf Shakespeares Tragödie "Romeo und Julia" basieren sollte. Bernstein erinnert sich: "Eine moderne Version von "Romeo und Julia" sollte es werden, es spielt in den Slums, den Elendsvierteln einer großen Stadt. Das Oster- wie das jüdische Pessach-Fest werden gefeiert, Hassausbrüche zwischen Juden und Christen. Die einen stellen die Capulets Shakespeares dar, die anderen die Montagues."

Leonard Bernstein ist begeistert von dem Stoff. Jerome Robbins schlägt als Texter Arthur Laurents vor, später wird auch Stephen Sondheim einbezogen. Doch so schnell wie die Idee aufgetaucht ist, so schnell wird sie auch wieder auf Eis gelegt. Der vielbeschäftige Bernstein findet nicht genug Zeit. Acht Jahre sollte es dauern von der Idee bis zum fertigen Musical. 1955 erfolgte der zweite Anlauf: "Wir sind noch immer von der "Romeo"-Idee begeistert. Nur haben wir das ganze christlich-jüdische Problem aufgegeben: Es erscheint uns plötzlich altmodisch. Stattdessen ist uns etwas eingefallen, das meinem Gefühl nach den Nagel auf den Kopf trifft. Zwei Jugend-Banden, die eine kämpferische Puertoricaner, die andere selbst ernannte "echte" Amerikaner. Auf einmal habe ich alles sehr lebendig vor Augen. Ich spüre Rhythmen und ahne sogar schon die Form."

In den nächsten beiden Jahren wird an dem Musical mit Hochdruck und natürlich diversen Krisen gearbeitet. "West Side Story" sollte die amerikanische Theater-Landschaft verändern. Eine Show, die Gewalt, Jugendgangs und Rassenvorurteile thematisierte und nicht mit einem Happy End, sondern mit dem Tod der Hauptdarsteller endete. Ein Musical, das Musik, Tanz und Text zu einem Ganzen verwob, war eine Offenbarung für das Publikum.

Noch mehr Erfolg als das Musical hatte die Verfilmung von 1961. Dafür gab es gleich zehn Oscars. Für Leonard Bernstein aber stand etwas anderes im Vordergrund. Über sein Exemplar von Shakespeares "Romeo und Julia" schrieb er: "An out and out plea for racial tolerance." - Ein eindringlicher Appell für mehr Toleranz.

1960 bearbeitete Bernstein das Werk für den Konzertsaal - das Ergebnis sind die Symphonic Dances from "West Side Story“, bei der die Hollywood-Orchesterprofis Sid Ramin und Irwin Kostal dem Meister beratend in der raffiniert-effektvollen Instrumentation zur Seite standen. Allein die Aufzählung der Schlag- und Geräuschinstrumente illustriert die ungeheure Vitalität der Partitur: Pauken, Handtrommeln, Bongos, Tomtom, kleine Trommel, Tenortrommel, große Trommel, Tambourin, Becken, Kürbisrassel, Maracas, Kuhglocken, Holzblock, Triangel, Tamtam, Polizeipfeife, Xylophon, Vibraphon, Glockenspiel und Turmglockenspiel. Die Uraufführung dieser Fassung erfolgte am 13. Februar 1961 mit dem New York Philharmonic unter der Leitung von Lukas Foss.

Für die Sinfonischen Tänze stellte Bernstein die Musik des Musicals neu zusammen, folgte jedoch nicht dem Handlungsablauf, sondern speziellen musikdramaturgischen Regeln. Von einer Aneinanderreihung der Highlights sah er ab (Hits wie „America“ oder „Tonight“ fehlen beispielsweise ganz). Mit Hilfe durchkomponierter Übergänge und zahlreicher Motivzusammenhänge entstand ein kompaktes Werk eigener Intensität, das gleichwohl konkrete Beziehungen zum Musical aufwies.

„Prolog“- Die wachsende Rivalität zwischen den beiden Teenager-Banden, den Jets und den Sharks. „Somewhere“ - In einer visionären Traumsequenz sind die beiden Gangs in Freundschaft vereint. „Scherzo“ - Im gleichen Traum brechen sie die Mauern der Stadt nieder und finden sich plötzlich wieder in einer Welt von Freiheit, Luft und Sonne. Zurück zur Realität; die Auseinandersetzung, der „Mambo“ zwischen den beiden Gangs. „Cha-Cha“ - Maria und Tony, die „verboten Liebenden“, sehen einander zum ersten Mal und tanzen miteinander. „Meeting Scene“ - Die Musik begleitet ihre ersten gesprochenen Worte. „Cool“ Fugue - Der Titel sagt alles: Eine kunstvolle Tanzsequenz, in der die Jets ihre Feindseligkeit vorerst unter Kontrolle halten. „Rumble“ - Die Bandenschlacht spitzt sich zu, auf dem Höhepunkt werden die beiden Bandenchefs getötet, einer davon, Marias Bruder, stirbt durch Tonys Hand. „ Finale“- Die Musik der Liebe verwandelt sich in eine Trauerprozession, die ursprüngliche Vision von „Somewhere“ scheint nochmals auf im Licht der tragischen Realität.

Direkt am Anfang erklingt das Hauptmotiv des Musicals, das gepfiffene Erkennungssignal der Jets, welches um das Intervall des Tritonus herum gebildet ist. Dieser in der gesamten abendländischen Musikgeschichte vor dem 20. Jahrhundert als „Intervall des Teufels“ berühmte Tonsprung einer übermäßigen Quarte kehrt wieder in Tonys Song „Maria“ und wird zu einem Kern des Werkes. Es ist jenes Intervall, das die Oktave schmerzhaft in zwar zwei gleich große, dafür aber dissonante Hälften teilt - was wäre besser geeignet, einen Konflikt zu charakterisieren, dessen zwei Seiten einander viel mehr ähnlich sind, als dass sie sich unterscheiden? Was wäre ein besseres Symbol für den Widerstreit zwischen Freundschaft und Aggression, zwischen Gewalt und Liebe, der den Stoff dieses Dramas und unzähliger anderer Dramen davor und danach ausmacht?

Heute empfehle ich Ihnen gleich eine Reihe von Mitschnitten, zunächst das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada, aufgezeichnet am 16. August 2016 in der Weseler Werft in Frankfurt/Main:

www.youtube.com/watch

Das NDR Elbphilharmonie Orchester spielte die Sinfonischen Tänze unter der Leitung von Alan Gilbert am 1. September 2021 in der Hamburger Elbphilharmonie:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich die NDR Radiophilharmonie unter der Leitung ihres ehemaligen Chefdirigenten Eiji Oue, aufgezeichnet am 12. Oktober 2023 im Großen Sendesaal des NDR Konzerthauses in Hannover:

www.youtube.com/watch

Und schließlich noch zwei Mitschnitte mit dem Komponisten am Pult - hier zunächst eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1985 mit Leonard Bernstein und dem Israel Philharmonic in der Symphony Hall in Osaka:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss noch ein besonderes Highlight: Leonard Bernstein mit dem New York Philharmonic bei einem Gastspiel in der Frankfurter Jahrhunderthalle Hoechst am 8. Juni 1976: Das ZDF sendete Ausschnitte aus dem Konzert in folgender Reihenfolge:

John Philip Sousa -  The Stars and Stripes Forever
George Gershwin - Rhapsody in Blue (Leonard Bernstein, Solist und Dirigent)
Leonard Bernstein - Symphonic Dances from "West Side Story"

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd