Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück ist eines der Werke, dessen Finale so mitreißend komponiert ist, dass Begeisterungsstürme im Saal im Anschluss eigentlich immer garantiert sind: Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36. Es ist zugleich sein wohl persönlichstes Werk, das er eng mit seiner Lebensrealität verknüpfte.
Noch während Peter Tschaikowsky in den Sommermonaten 1877 an seiner vierten Sinfonie arbeitete, legte er sich bereits auf Nadeschda von Meck als Widmungsträgerin des Werks fest. Die Unternehmerwitwe tat sich als äußerst kunstsinnige und fachkundige Mäzenin hervor, wobei sie den russischen Komponisten am meisten begünstigte. Dabei stand Tschaikowsky mitnichten im Sinn, von Mecks finanzielle Gunst mit dieser Widmung zu fördern oder zumindest zu pflegen. Jahrelang führten die beiden eine leidenschaftliche wie innige und intime Brieffreundschaft, ohne dass die beiden jemals miteinander von Angesicht zu Angesicht sprachen. „Ehe ich meinen Wunsch äußere, möchte ich eine Frage an Sie richten“, heißt es in ihrer Antwort, nachdem sie von der Widmung erfahren hatte: „Halten Sie mich für Ihren Freund? Falls Sie diese Frage mit einem Ja beantworten können, so würde ich mich sehr freuen, wenn die Widmung der Sinfonie ohne Namensnennung einfach lauten könnte: „Meinem Freunde gewidmet.““
In der Tat wäre vielleicht ohne die damals noch sehr junge Freundschaft der beiden die vierte Sinfonie, die neben den Nummern fünf und sechs zu den bedeutendsten Werken Tschaikowskys zählt, erst gar nicht entstanden, denn der Komponist hatte mit seelischer Not zu kämpfen: Da gab es einerseits die unerfüllte, weil verbotene Liebe mit dem Geiger Josef Kotek. Andererseits hatte der Komponist mit einer falschen oder zumindest merkwürdigen Liebe zu kämpfen: Die ehemalige Kommilitonin Antonina Miljukowa, die Tschaikowsky völlig unbekannt war, stellte diesem nach und drängte ihn zur Heirat. Die Katastrophe ließ nicht auf sich warten: Zwei Wochen nach der Hochzeit flüchtete der Komponist aus dem neuen "trauten Heim", versuchte sich zu ertränken und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Tschaikowskys Freunde sorgten für eine Trennung von Antonina, die sich mit Geld abfinden ließ und die letzten Jahre ihres Lebens in einer Nervenheilanstalt verbrachte. Warum der Komponist sie ehelichte, ist bis heute nicht geklärt, wobei unter Musikwissenschaftlern die weitläufige Annahme vorherrscht, dass er seine Homosexualität damit zu kaschieren hoffte.
Eine Geschichte wie aus dem Groschenroman - und doch typisch für den psychisch labilen Tschaikowsky, der seine Krise, wie so oft, durch Musik verarbeitete. Und wenn man die tragische Fanfare am Beginn seiner vierten Sinfonie hört, die im Jahr seiner Ehekatastrophe entstand, wenn später die ständigen Steigerungswellen und hysterischen Ausbrüche dieses Werks über einen hinwegrauschen, wird deutlich: Diese Musik ist extrem und arbeitet mit allen Mitteln, um die Zuhörer:innen in ein instrumentales Drama hineinzuziehen. So ist die Komposition eine sehr persönliche, eng mit Tschaikowskys Lebensrealität verbundene Sinfonie. Die Widmung kommt also nicht von ungefähr. Der Komponist kam übrigens dem Wunsch seiner Förderin nicht ganz nach und notierte in seine Partitur „a mon meilleur ami“ – „meinem besten Freunde gewidmet“.
Auch wenn das Publikum der Petersburger Uraufführung im Jahr 1878 vom autobiografischen Hintergrund des Werks wenig ahnte, reagierte es enthusiastisch mit "Applaussturm, Rufen und Füßetrampeln".
Drei Mitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Wahl, darunter gleich an erster Stelle mein Favorit: Was Leonard Bernstein mit dem New York Philharmonic 1976 mit den letzten Minuten des ersten Satzes anstellt, habe ich bis heute nicht packender und überzeugender gehört - der Mitschnitt entstand in der Avery Fisher Hall im New Yorker Lincoln Center:
Drei Jahre später dirigierte Mariss Jansons das Werk. Der Dirigent äußerte sich einmal wie folgt zu dieser Sinfonie: "Das ist ein menschliches Drama, ein Drama der Seele. Wir wissen, dass Tschaikowsky sehr schwere Zeiten hatte; er war homosexuell, und das kam in der damaligen Gesellschaft überhaupt nicht in Frage. Er hatte furchtbare Angst, und das alles hat ihn fast in eine Situation gebracht, in der er sterben wollte." Zugleich warnte Jansons: "Tschaikowsky darf nicht sentimental klingen, nicht melancholisch, zu süß, man darf die schönen Melodien nicht zu viel genießen; wenn man das übertreibt, verliert die Musik das echte Gefühl. Dieses seelische, dramatische Leidmoment; das ist, glaube ich, ein wichtiger Schlüssel für die Interpretation von Tschaikowskys Musik."
Mit Tschaikowskys vierter Sinfonie bestritt Mariss Jansons am 27. September 1979 sein Antrittskonzert als Chefdirigent des Oslo Philharmonic. Das Orchester feierte zugleich seinen 60. Geburtstag in der Oslo Concert Hall:
Und noch eine letzte Empfehlung: Die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan, aufgezeichnet 1973 in der Berliner Philharmonie:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler