Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Werk kommt wieder einmal aus Frankreich. In Maurice Ravel Suite „Le Tombeau de Couperin“ ist jeder Satz einem seiner Freunde gewidmet, die im ersten Weltkrieg gefallen waren.
Ravel, der Rätselhafte: Kriegsteilnehmer und Kosmopolit, beliebter Salon-Dandy à la Baudelaire und zugleich zurückgezogen und introvertiert, ein Spieldosen-Nerd mit dem übergroßen Portrait der Mutter hinter dem Flügel und ein hoch empfindsamer musikalischer Impressionist - dieser frühvollendete Virtuose war seit jeher eine anscheinend unlösbare Knobelaufgabe für die Biographen. Ebenso vielseitig und janusköpfig wie der Komponist ist seine Musik: Voller Jubel und scheinbar unbekümmerter Spielfreude einerseits, gedankenvoll und formal ausgesprochen komprimiert andererseits. Dem glasklaren, kristallinen Klang seiner Stücke steht ein zutiefst klassizistisches Formdenken gegenüber. Ravel strukturierte seine Musik im Kopf, bevor er sie niederschrieb; die längste Arbeitsphase war das „Aussondern überflüssiger Noten“, was schon mal mehrere Jahre dauern konnte. Jedenfalls konnte man sicher sein, dass hinterher nichts übrig blieb, was nicht Hand und Fuß hatte.
Eine „Suite française für Klavier“ wollte Ravel 1914 schreiben, am Vorabend des ersten Weltkrieges - und mit der Widmung an François Couperin, den berühmten Cembalisten des 18. Jahrhunderts, auch der französischen Musik ein Denkmal setzen (tombeau = Grabmal). „Couperin“ ist aber nur ein pars pro toto für das, was im nationalistischen Geist der Zeit als die originäre französische Musik galt (in Abgrenzung zur deutsch-klassischen Achse Beethoven-Brahms): Die kristalline, fein ziselierte Hofmusik aus der Zeit des Absolutismus. Debussy, der zuweilen mit „musicien français“ unterschrieb, war ein Leuchtturm dieser programmatischen Rückbesinnung, und Ravel, der Debussy bewunderte, aber wesentlich humorvoller und kosmopolitischer war, machte mit „Le Tombeau“ seine Reverenz. Dieses „Grabmal“ - das erst 1917 fertiggestellt wurde, nach Ravels Kriegseinsatz als Lastwagenfahrer - ist nicht nur eine nationalistische Devotionalie. Ravel verarbeitete darin auch den Tod seiner Mutter (1917) und den seiner gefallenen Kameraden, denen je ein Satz gewidmet ist.
Musikalisch ist das Stück dennoch nicht wirklich ein Trauerstück. Im Gegenteil, es herrschen große Spielfreude, ein packender Schwung und mechanischer Drive, wie z.B. in der Toccata und in der Rastlosigkeit der Forlane, die wie eine Spieluhr abschnurrt. Ravel begann 1914 mit der Komposition und ließ sich dabei von der Forlane aus dem 200 Jahre früher entstandenen vierten Concert royal für Flöte und Basso continuo anregen, die Couperin für die intimen Kammerkonzerte in den Gemächern des Sonnenkönigs Ludwig XIV. geschrieben hatte. Das Menuett schlägt bei Ravel melancholischere Töne an. Unter den historischen Tanzformen findet sich auch ein Kuriosum: Die Aufnahme der altertümlichen Forlane in den Zyklus ist eine ironische Anspielung auf ein päpstliches Dekret der Zeit, das den unzüchtigen Tango verbietet und diesen alten Tanz als Ersatz empfiehlt (erfolglos, wie wir heute wissen).
Überall erkennt man die historisierende Anspielung auf die barocke Cembalomusik: in den Satzbezeichungen, Formen, und auch in der Spielweise - in den durchgehenden Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Bewegungen des Präludiums, des Rigaudon, der Toccata. Es ist leicht, durch die tänzerisch-hüpfende Forlane die Acciaccaturen hindurch klingen zu hören, jene Akkordbrechungen, die dezent mit harmoniefremden Tönen gewürzt sind und die der französischen Cembalomusik ihr apartes Gepräge geben (dazwischen schmuggelt Ravel auch den einen oder anderen Klang aus der Jazz-Welt). Ravel beschrieb die brillante Schluss-Toccata als „puren Saint-Saëns“ - von ihm war das ein Kompliment an die besondere Kunstfertigkeit, mit der das Stück gearbeitet war.
Marguerite Long gab am 11. April 1919 die erste Aufführung des Werks. Angesichts der kristallklaren Musiksprache, der historisierenden Formen und überbordenden Spielfreude darf man augenzwinkernd sagen: „Couperin“ ja, „Tombeau“ nein. Die sechs Sätze der Klavierfassung: Prélude / Fugue / Forlane / Rigaudon / Menuet / Toccata.
Der Pianist Sean Chen ist mit Ravels "Le Tombeau de Couperin" im folgenden Link zu erleben, der Mitschnitt entstand in Kalamazoo (Michigan) im Rahmen der Reihe "Rising Stars" beim Gilmore Klavier Festival in der Saison 2016/17:
Nach dem Krieg wählte Ravel vier Sätze der Klaviersuite aus, um sie zu orchestrieren. 1919 war die Orchesterfassung des Tombeau vollendet. "Le Tombeau de Couperin" wurde zu einem von Ravels meistgespielten Werken, die Holzbläser spielen darin eine überragende Rolle. Auf ein tragisch gestimmtes Prélude in e-Moll, das an die Cembalo-Präludien von Couperin angelehnt ist, folgt die Forlane, der berühmteste Satz des Werkes, von Ravel zum modernen Klangstück weiterentwickelt. Das Menuett in G-Dur weist als Trio eine Musette auf, ein im Rokoko besonders beliebter Tanz, der die Klänge des Dudelsacks imitiert. Ein Rigaudon, Nachfahre des gleichnamigen schnellen Barocktanzes im Zweiertakt, beschließt wirkungsvoll und brillant die Suite. Die vier Sätze der Orchesterfassung: Prélude / Forlane / Menuett / Rigaudon.
Und hier der Mitschnitt der Orchesterfassung. Am 9. Juni 2019 musizierte die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Pablo Heras-Casado Ravels "Le Tombeau de Couperin" im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler