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13.05.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 620

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

der Einstieg als Hörer in unser heutiges Musikstück ist so leicht wie selten, selbst der Komponist kommt nicht um Eigenlob herum: "Was für eine Melodie!" - so begeistert äußerte sich Edward Elgar über den musikalischen Geistesblitz, den er an den Anfang seiner Sinfonie Nr. 1 As-Dur op. 55 stellte. Tatsächlich wirkt dieser Beginn wie ein langsam zu majestätischer Größe anschwellender Fluss. Wem das nicht gefällt, dem ist nicht zu helfen.

Ein Amuse-Gueule ist schnell vernascht - und direkt ist klar: Top oder Flop. Edward Elgar ist im deutschen Sprachraum vor allem als Komponist musikalischer Gaumenkitzler beliebt, ob nun der erste "Pomp and Circumstance"-Marsch oder der zarte Hauch von einem Nichts mit dem Titel "Salut d’amour". Elgar also, der Meister der kleinen Form. Doch ein ambitionierter Koch, der neben "petits riens" nicht auch ein Zehn-Gänge-Menü kredenzen kann, braucht sich keine Hoffnungen auf einen Stern zu machen. Beim Komponieren ist die mögliche Eintrittskarte in den Olymp die orchestrale Königsgattung namens Sinfonie. Ihr bibberte Elgar jahrzehntelang entgegen. Zwar bewies er 1899 mit seinen "Enigma-Variationen", ein Orchesterkomponist von Gnaden zu sein, aber sie sind eben doch eine Folge von vielen kleinen musikalischen Leckerbissen. Die große epische Form hingegen, die Sinfonie also, war eine andere Herausforderung. Hans Richter, Uraufführungsdirigent der "Enigma-Variationen", machte dem mittlerweile 50-jährigen Elgar einmal mehr Dampf, seine Angst zu überwinden.

Und so reist das Ehepaar Elgar im November 1907 nach Rom, wo Alice am 3. Dezember vermelden kann: Edward hat mit der Arbeit begonnen. Anfangs blockiert er sich noch mit seinen hoch gesteckten Ambitionen. Eine garstige Grippe und der Tod eines guten Freundes tun ihr Übriges. Und so kehrt Elgar im Mai 1908 ohne die geplante Sinfonie nach England zurück. Aber jetzt öffnen sich endgültig die Schleusen. Schon am 25. September ist die Mammut-Aufgabe vollbracht. Die Uraufführung am 3. Dezember macht klar: Elgar hat sein selbst gestecktes Ziel weitaus übertroffen.

Die Sinfonie begeistert klanglich, aber die Experten überschlagen sich zudem in ihrer Bewunderung für die vollendete Architektur der Form. Elgar hat nicht nur innerhalb der vier Sätze große Bögen gespannt, sondern über das gesamte fast einstündige Werk. Alles wird zusammengehalten durch ein Motto-Thema, das sich am Anfang allmählich formiert und im Laufe der Sinfonie mehrfach wiederkehrt, bis es am Schluss zu einer Apotheose von gleißender Strahlkraft führt. Elgars erste Sinfonie wurde 1908 in Manchester uraufgeführt und bedeutete den endgültigen Durchbruch für die englische Sinfonik. Es folgte ein regelrechter Triumphzug durch die Konzertsäle der Welt: allein im Folgejahr 1909 kam es zu über hundert Aufführungen u. a. in den USA, Wien, Berlin, Bonn, Leipzig, St. Petersburg und Sydney. Doch in Kontinentaleuropa hielten viele Kritiker und später auch große Teile der Musikwissenschaft die Epoche der großen, tonalen Sinfonik mit Gustav Mahler für beendet und ließen die Sinfonien Elgars oder auch die des Finnen Sibelius allenfalls als bemühte Äußerungen an der Peripherie liegender, leicht verspäteter nationaler Musikkulturen gelten.

Elgars As-Dur-Sinfonie folgt keinem außermusikalischen Programm, wirkt flüssig und keinesfalls konstruiert, auch wenn gewisse Verbindungen zwischen den Themen der vier Sätze zu finden sind. Relativ unbekümmert erfindet Elgar immer wieder neue Melodien mit Abwandlungen, Entwicklungen und Variationen. Einem Freund berichtete er einmal, er habe musikalische Tagträume in der gleichen Weise, wie andere Leute Tagträume von Heldentaten oder Abenteuern haben, und er könne sich vorstellen, nahezu jeden seiner Gedanken mit musikalischen Mitteln auszudrücken. „Musik ist sozusagen in der Luft um uns herum“, war seine Einstellung, „man braucht sich nur so viel davon nehmen, wie man haben will.“

Zwei Konzertmitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Auswahl, zunächst mit der NDR Radiophilharmonie unter der Leitung von Andrew Manze, aufgezeichnet beim Eröffnungskonzert der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern am 18. Juni 2022 in der Konzertkirche Neubrandenburg. Eine persönliche Anmerkung hierzu: Angesichts der immer noch steigenden Anzahl von Kirchenaustritten halte ich die Umwidmung eines Gebäudes von einer Kirche in einen Konzertsaal für eine der besten denkbaren Lösungen - schauen Sie selbst:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Lionel Bringuier, aufgezeichnet am 27. Mai 2023 in der Kölner Philharmonie:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd