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11.06.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 786

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

unser heutiges Werk gilt als erstes bedeutendes Streichquartett der russischen Musik: Peter Tschaikowskys Streichquartett Nr. 1 D-Dur op. 11.

Der russische Komponist Peter Tschaikowsky war sensibel und hatte dazu noch einen Hang zum Perfektionismus. Immer wieder haderte er mit sich und seiner Musik. Nur einmal, war er mit Stolz erfüllt: Während der zweite Satz seines ersten Streichquartettes gespielt wurde, sollen Leo Tolstoi - bekannt für weltberühmte Literatur wie "Krieg und Frieden" oder "Anna Karenina" - Tränen über das Gesicht gelaufen sein. 

1866 war Tschaikowsky 26 Jahre alt und mitten im Aufbruch. Der russische Pianist Nikolai Rubinstein hatte ihn von St. Petersburg nach Moskau eingeladen, am neu gegründeten Konservatorium als Dozent zu unterrichten. Und weil Tschaikowsky nach seinem Studienabschluss bei Rubinsteins Bruder Anton nicht so recht wusste, wohin mit sich, nahm er das Angebot an. Rubinstein verschaffte Tschaikowsky nicht nur seinen ersten Job, sondern ließ ihn auch bei sich wohnen und führte ihn - neu eingekleidet - ins Moskauer Musikleben ein. Denn Tschaikowsky stand am Anfang seiner Karriere, und weil selbstbewusstes Auftreten oder Eigenwerbung noch nie zu seinen Stärken gehört hatte, nahm er Rubinsteins Hilfe dankend an.

Damit sich Tschaikowsky nicht nur als Dozent sondern auch als Komponist in Moskau etablierte, überredete ihn Rubinstein 1871 zu einem Kammermusikabend - ausgerichtet von der Moskauer Abteilung der Russischen Musikgesellschaft, die 1860 von Rubinstein gegründet worden war. Doch weil Tschaikowsky seiner Meinung nach nicht genügend vorzeigbare Stücke hatte, zumindest keine größer besetzten, schrieb er kurzentschlossen das Streichquartett Nr. 1 D-Dur. Wider allen Selbstzweifel, wurde es, wie die Kritiker später sagten, ein "Geniestreich", vor allem der zweite Satz. Darin griff Tschaikowsky auf das ukrainische Volkslied "Wanja saß auf dem Diwan" zurück, das er von einem singenden Handwerker auf dem Landgut seiner Schwester kannte.

Der zweite Satz wurde für Tschaikowsky zum Erfolgsgaranten seines Kammermusikabends. Auf der Bühne saßen vier Professoren des Moskauer Konservatoriums, die sowohl vom Publikum als auch von den Kritikern bejubelt wurden. Tschaikowsky traute am 28. März 1871 seinen Ohren nicht, war aber erst sechs Jahre später von sich und seiner Musik überzeugt. In einem Konzert, bei dem erneut sein Streichquartett gespielt wurde und Leo Tolstoi im zweiten Satz Tränen vergoss, waren Tschaikowskys Zweifel verschwunden: „Noch nie in meinem Leben war ich so stolz auf meine kompositorischen Fähigkeiten wie an diesem Abend, als Leo Tolstoi neben mir die Tränen herunterliefen, während das Quartett mein Andante spielte.“ Animiert durch Tolstois emotionale Reaktion auf seine Musik, arbeitete Tschaikowsky den zweiten Satz noch einmal für Violoncello und Streichorchester um. Heute ist diese Version fast berühmter als das Original.

Hier zunächst das Andante cantabile für Violoncello und Streichorchester mit Gautier Capucon und dem  Verbier Festival Chamber Orchestra unter der Leitung von Gábor Takács-Nagy, der Mitschnitt entstand beim Verbier Musikfestival am 27. Juli 2012:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich die Fassung für Streichorchester mit dem New York Philharmonic unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet Mitte der 1970er Jahre in der New Yorker Avery Fisher Hall:

www.youtube.com/watch

Obwohl das Quartett stellenweise an Komponisten wie Ludwig van Beethoven oder Franz Schubert erinnert, ist es in sich Tschaikowsky pur. Jeden der insgesamt vier Sätze durchzieht wortlose Poesie, ganz im Sinne der Romantik: elegant, lebendig und phasenweise sogar unbeschwert. Mag Tschaikowsky auch als „Westler“ gelten und in einem gewissen Gegensatz stehen zur Gruppe der Fünf (auch „das mächtige Häuflein“ genannt: Balakirew, Borodin, Cui, Mussorgsky und Rimsky-Korsakow), so treten doch gerade im D-Dur-Quartett folkloristische Anklänge deutlich hervor. Es ist musikantisch-spielfreudig und weist einen unverkennbar russischen Tonfall auf. Im Kopfsatz wirkt das Thema mit seinem synkopierten 9/8-Takt eigenartig. Am deutlichsten klingt Folklore im Andante in B-Dur an, das durchwegs con sordini zu spielen ist. Das Scherzo, ein robuster russischer Tanz, ist heiter und entwickelt durch die Verlagerung des schweren Taktteils eine starke rhythmische Energie. Mit Elan verläuft das Finale. Es lässt ein russisches Dorffest aufleben. Nach dem pianissimo-Rückgriff auf das dritte Thema im Andante-Tempo klingt die Coda triumphierend fortissimo und allegro vivace aus.

Hier nun das komplette Streichquartett Nr. 1 D-Dur op. 11 - unsere heutigen Interpreten sind die Mitglieder des Julia Fischer Quartetts: Julia Fischer, Alexander Sitkovetsky, Nils Mönkemeyer und Benjamin Nyffenegger; der Mitschnitt entstand 2022 beim Rheingau Musikfestival im Schloss Johannisberg:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd