Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
in der heutigen Ausgabe dreht sich alles um Igor Strawinskys zweites Ballett für Sergej Diaghilew und dessen Ballets Russes: Petruschka.
Mit dem "Feuervogel", dem ersten Ballett, das für Diaghilew entstand, war Strawinsky 1910 quasi über Nacht berühmt geworden. 1913 kam dann die skandalöse Uraufführung von "Le sacre du printemps" - der Höhepunkt der kongenialen Zusammenarbeit zwischen Komponist und Ballettimpresario. Zwischen diesen beiden Tanzpartituren steht im Jahr 1911 "Petruschka" - ein raffiniertes Stück, in dem das Heitere plötzlich zum bitteren Ernst wird.
Eigentlich arbeitete der Komponist im September 1910 gerade an einem anderen Werk, als ihn ein scheinbar absurder Einfall mit einem Mal gründlich ablenkte: „Die hartnäckige Vorstellung einer Gliederpuppe, die plötzlich Leben gewinnt und durch das teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die Geduld des Orchesters so sehr erschöpft, dass es sie mit Fanfaren bedroht. Daraus entwickelt sich ein schrecklicher Wirrwarr, der auf seinem Höhepunkt mit dem schmerzlich-klagenden Zusammenbruch des armen Hampelmannes endet“, wie Strawinsky in seinen Erinnerungen erzählt. Aus einem Impuls heraus machte der Komponist sich daran, diese Idee in ein Konzertstück für Klavier und Orchester umzusetzen. Der gewiefte Theatermann Sergej Diaghilew erkannte das Potenzial dieser neuen Idee sofort. Kurzerhand bat er Strawinsky, die Arbeit an seinem aktuellen Projekt - dem später legendären „Le Sacre du printemps“ - zurückzustellen und stattdessen seine Idee vom Streit des Orchesters mit einem Hampelmann in ein Ballett umzuarbeiten: „Petruschka“.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Auf einem Jahrmarkt tritt ein Gaukler mit drei Marionetten auf - der hübschen Ballerina, dem schneidigen Mohren und dem ungelenken Petruschka. Was er nicht weiß: Hinter den Kulissen, wenn niemand hinschaut, werden die Puppen lebendig. Petruschka ist unsterblich in die Ballerina verliebt, diese jedoch hat nur Augen für den Mohren. Das Ganze endet tragisch: Nach einem Eifersuchtsdrama und einem Kampf zwischen den beiden Konkurrenten erschlägt der Mohr Petruschka.
Während die Handlung des Balletts noch ganz traditionell und linear verläuft, ging Strawinsky mit der Musik zu "Petruschka" schon den Schritt von der Spätromantik in die Moderne. So verzichtet er beispielsweise auf die bis dahin übliche emotionale Identifikation mit der Hauptfigur zugunsten einer gleichsam objektiven Darstellung der Geschehnisse. Eines der musikalischen Mittel, die der Komponist dafür verwendete, ist die Collagetechnik, die bereits im ersten Bild hörbar zum Einsatz kommt. Hier vermischen sich Volks- und Trinklieder, Drehorgel- und Spieluhrmusik zu einem kunstvoll-chaotischen Abbild realistischen Jahrmarkttrubels. Klanglich überschneiden sich diese musikalischen Schlaglichter auf das bunte Treiben immer wieder, so dass verschiedene Taktarten, Rhythmen oder Harmonien gleichzeitig zu hören sind. Kompositorisch war ein solches Verfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionär, und auch heute noch erzeugen die vielfältigen Klangschichten beim Zuhören noch reizvolle akustische Irritationen.
Den zentralen Figuren seiner Geschichte ordnete Strawinsky gut wiedererkennbare Klänge oder Motive zu: Petruschka wird charakterisiert durch zwei Akkorde, die im Abstand einer übermäßigen Quarte stehen - des sogenannten Tritonus oder „Diabolus in musica“. Dieser „Teufel in der Musik“ symbolisiert seit jeher das Diabolische, Düstere, Unheimliche - das passende Intervall also für den eifersüchtigen und aufbrausenden Petruschka. Zum ersten Mal sind diese Akkorde unmittelbar nach der eröffnenden Jahrmarktsszene zu hören .
Mit einem kräftigen Paukenwirbel leitet der Komponist in die neue Szene über, die sich in Petruschkas Kammer abspielt. Nun erklingt sein Motiv in den Klarinetten. Die Wirkung des Tritonus verschärfte Strawinsky hier noch, indem er die Töne der beiden gleichzeitig erklingenden Akkorde so anordnete, dass sie möglichst dicht zusammenstehen. So erzeugte er maximalen Missklang - ein sprechendes Symbol für den zornig-tragischen Helden des Balletts.
Auffahrende musikalische Gesten charakterisieren den jähzornigen Mohren in der ebenfalls durch einen Paukenwirbel eingeleiteten Folgeszene. Die faszinierende Andersartigkeit, mit der der schneidige Krieger die Ballerina in seinen Bann zieht, schlägt sich in der Verwendung exotischer Instrumente und Harmonien nieder. Der Ballerina selbst schließlich ordnete Strawinsky einen holzschnittartigen und leicht karikierten Walzer zu, mit dem sie versucht, ihren Schwarm zu umgarnen - sehr zum Missfallen Petruschkas.
Für eine Konzertfassung der 1911 uraufgeführten Ballettmusik ersetzte Strawinsky den letzten Abschnitt im vierten Bild durch einen wirkungsvolleren Abschluss, der den Kampf des Mohren mit Petruschka und dessen Tod auslässt. Die Frage, ob die Marionetten wahrhaftig lebendig oder eben doch „nur“ Puppen sind - ob also die Geschichte nur ein Theaterstück auf dem Jahrmarkt oder doch eine reale Tragödie ist - lässt der Komponist allerdings in beiden Fassungen unbeantwortet.
Die Atmosphäre während der Proben war so angespannt, dass es bisweilen aussah, als würde das ganze Unternehmen der Ballets Russes auseinanderbrechen. Der Choreograph Michel Fokine war mit der Aufgabe sichtlich überfordert, die Tänzer fühlten sich wie Galeerensklaven, "nur Strawinsky, der die niedere Arbeit eines Pianisten ausübte, blieb unbeirrt. Seine einzige Konzession an die Hitze und Müdigkeit bestand darin, daß er seinen Rock ablegte, nicht ohne sich vorher angemessen für sein hemdsärmeliges Erscheinen zu entschuldigen." Die Begeisterung des Publikums die Uraufführung im Juni 1911 mit dem legendären Vaslav Nijinsky in der Titelrolle war für alle Beteiligten umso überraschender.
Drei verschiedene Mitschnitte empfehle ich Ihnen heute sehr gerne - zunächst als reines Konzertstück mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter Leitung von Andris Nelsons, aufgezeichnet am 16. November 2011 im Amsterdamer Concertgebouw:
Eine Aufführung des Australian Ballet 2009 aus dem Jahr in der Choreographie von Michel Fokine, es spielt das Australian Opera and Ballet Orchestra unter Leitung von Nicolette Fraillon, die Hauptrollen sind besetzt mit Marc Cassidy (Petruschka), Leanne Stojmenov (Ballerina), Luke Ingham (Mohr), Colin Peasley (Zauberer) und Tzu-Chao Chour (Teufel):
Von Strawinsky existiert außerdem noch eine Fassung für Klavier solo: Die Trois mouvements de Pétrouchka. Der Pianist Arthur Rubinstein beschreibt in seinen Memoiren seine Diskussionen mit Strawinsky bezüglich der Möglichkeiten des Klaviers, das der Komponist ausschließlich für ein Schlaginstrument hielt. „Ich ging zum Flügel und spielte Teile aus Pétrouchka, vor allem die Musik in Pétrouchkas Zimmer. Stravinsky vergaß auf der Stelle alles, was vorangegangen war und wurde ganz professionell. ‚Wie bringen sie es fertig, dass ihre Bässe so klingen? Haben Sie eine spezielle Pedaltechnik?’ ‚Ja, selbstverständlich. Ich halte mit dem Fuß die noch vibrierenden Bässe und kann deshalb im Diskant die Harmonien wechseln. ‘Und’ fuhr ich spaßhaft fort, ‘das von ihnen so gehasste Klavier kann noch viel mehr.’ Igor war nun ganz versöhnt. ‘Ich schreibe Ihnen eine Sonate auf Motive aus Pétrouchka.“
Die Trois mouvements de Pétrouchka sind eines der schwierigsten und virtuosesten Werke der Klavierliteratur. Strawinsky komponierte die Klaviertranskription 1921 und widmete sie Arthur Rubinstein. Im zweiten Satz „Chez Pétrouchka“ lässt sich Strawinskys Vorstellung vom Tasteninstrument deutlich erkennen: C-Dur gegen Fis-Dur, weiße gegen schwarze Tasten. Der dritte Satz „La semaine grasse“ stellt an den Spieler vor allem hohe Ansprüche an seine Sprung- und Schlagtechnik. Für die Notierung des letzten Satzes verwendet Strawinsky fast immer drei, teilweise aber auch vier Systeme.
Nur wenige Pianisten wagen sich an dieses technisch außerordentlich schwierige Werk heran - einer von ihnen ist Daniil Trifonov, der dieses Werk am 7. Dezember 2016 in der New Yorker Carnegie Hall spielte:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler