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13.05.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 622

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein Klassiker des 20. Jahrhunderts erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Alban Bergs Violinkonzert "Dem Andenken eines Engels".

Bergs finanzielle Lage im Jahr 1935 war prekär. Denn nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland war seine Musik dort verboten, Tantiemen blieben aus. Mitten in der Arbeit an seiner Oper "Lulu" erreichte ihn im Februar des Jahres eine Anfrage von Louis Krasner, einem selbstbewussten jungen amerikanischen Geiger. Erstklassig in den USA und in Europa ausgebildet, setzte Krasner sich insbesondere für die Avantgarde ein.

Schnell war man sich handelseinig. Berg sollte zum Stichtag 31. Oktober ein Violinkonzert liefern; vertraglich festgelegte Spieldauer: 20 Minuten, Honorar: 1.500 US-Dollar. Ein zeitlich knapp geplantes Unterfangen. Zum konzentrierten Arbeiten zog Alban Berg sich zunächst in die Natur zurück, auch dies im Einvernehmen mit der Tradition, wie er an Krasner schrieb - an den Wörthersee, "schräg vis-à-vis von Pörtschach, wo das Violinkonzert von Brahms entstanden ist".

Schnell sprühten die Gedanken und Ideen. Und bald ist klar: nicht drei, sondern zwei Sätze wird das Werk haben, jeweils untergliedert in zwei Teile mit den, so Berg, Grundcharakteren "Frei, Fröhlich, Fromm, Frisch". In dieser angeregten Phase der Disposition schlägt das Schicksal zu: Am 22. April 1935 stirbt die 18-jährige Manon Gropius, eine Tochter von Alma Mahler-Werfel, an den Folgen der Kinderlähmung. Berg mochte diese junge Frau ganz besonders gern und fasst den Entschluss, ihr sein Violinkonzert als Requiem zu widmen. An die trauernde Mutter schreibt er: "Ich will auch brieflich nicht versuchen, dort Worte zu finden, wo die Sprache versagt. Eines Tages mag Dir aus einer Partitur, die dem Andenken eines Engels geweiht sein wird, das erklingen, was ich fühle und wofür ich heute keinen Ausdruck finde".

In wenigen Werken der Musikgeschichte ist die Komposition so subtil, so fragil und so voller empathischer Wärme auf das Schicksal eines geliebten Menschen bezogen wie in Bergs Violinkonzert "Dem Andenken eines Engels". Es ist freilich kein direktes musikalisches Porträt, und doch lässt sich Manons lebensbejahendes Wesen aus den Klängen des ersten Satzes erspüren. Zwischendurch hat Berg das Zitat des Kärntner Volksliedes "A Vögele af’n Zwetschgnbam" in seine Musik eingewoben. Aus dem zweiten Satz spricht zunächst die Trauer über Manons Tod, die sich schließlich wandelt zu Erlösung und innerem Frieden. Auch hier zieht Berg ein Zitat hinzu, Johann Sebastian Bachs Choral "Es ist genug! So nimm, Herr, meinen Geist" aus der Kantate "O Ewigkeit, du Donnerwort" BWV 60. Darin heißt es: "Es ist genug! Herr, wenn es Dir gefällt, so spanne mich doch aus! Mein Jesus kömmt; nun gute Nacht, o Welt!". Diesen Choral hatte Berg auch wegen der ungewöhnlichen Melodie ausgewählt: „Die ersten vier Töne des Chorals, eine Ganztonfolge, entsprechen genau den letzten vier“, so der Komponist.  

Bereits am 11. August, mehr als zweieinhalb Monate vor dem mit Krasner vereinbarten Termin, beendet Berg die Reinschrift seiner Partitur. Einige Tage später zieht er sich einen Insektenstich zu, der sich entzündet und einen Furunkel hervorruft. Nur acht Monate nach Manons Tod wird der 50-jährige Alban Berg in ein Spital eingeliefert und stirbt in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember im Wiener Rudolfspital an einer Blutvergiftung. Sein Violinkonzert wurde vier Monate später mit Krasner als Solisten am 19. April 1936 in Barcelona  uraufgeführt. Ein Rezensent hielt den Moment nach dem Verklingen des Werks fest: "Das Publikum ist gebannt. Hermann Scherchen, der meisterliche Dirigent, nimmt die handgeschriebene Partitur Alban Bergs vom Pult und hält sie der ergriffenen Zuhörerschaft wie ein Messbuch entgegen". Bergs Violinkonzert wurde seine meistgespielte Komposition.

Drei Konzertmitschnitte mit diesem Meisterwerk habe ich für Sie ausgewählt, zunächst Augustin Hadelich mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Andris Nelsons, aufgezeichnet am 5. August bei den Salzburger Festspielen 2023 im Großen Festspielhaus:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Frank-Peter Zimmermann mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Alan Gilbert, aufgezeichnet am 28. Februar 2020 in der Hamburger Elbphilharmonie, die Zugabe ist das Presto aus der Sonate für Violine solo von Bela Bartok:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss noch der Mitschnitt, durch den ich vor vielen Jahren das Konzert kennengelernt habe: Gidon Kremer mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung seines damaligen Chefdirigenten Sir Colin Davis, aufgezeichnet 1984 im Münchner Herkulessaal der Residenz:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd