Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
im Jahr 1990 stürmte eine Puccini-Arie weltweit die Hitparaden. Luciano Pavarotti avancierte dank der Fußball-Weltmeisterschaft zum Popstar, Publikumslieblinge wie Phil Collins, die Beach Boys oder Soul II Soul hat er in Großbritannien glatt überholt: Seine Langspielplatte "The Essential Pavarotti" kletterte jetzt an die Spitze der englischen LP-Charts. Mit der Arie "Nessun dorma" aus der Oper "Turandot" erreichte der Italiener außerdem den zweiten Platz der Single-Hitparade, diesmal knapp hinter Elton John. Pavarottis "Nessun dorma", zu deutsch: "Keiner schlafe", war einer der offiziellen Songs des italienischen Fußball-Spektakels, und das britische Fernsehen machte die Opernarie zusätzlich populär: Der Puccini-Ohrwurm diente als Kennmelodie für die tägliche Fußball-Berichterstattung der BBC.
Sie ahnen es schon - heute geht es um Puccinis letzte Oper "Turandot". Als Einstimmung hier aber zunächst zwei Mitschnitte dieser Arie, die noch immer für Jubelstürme sorgt. Zunächst Luciano Pavarotti bei einem Konzert, das Musikgeschichte geschrieben hat: Das erste Konzert der drei Tenöre (Luciano Pavarotti, Placido Domingo und José Carreras) in den Caracalla-Thermen in Rom, aufgenommen am 7. Juli 1990, am Vorabend des Endspiels der Fußball-WM. Zubin Mehta leitete gleich zwei Orchester - das Orchestra del Teatro dell'Opera di Roma & Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino:
Zum Vergleich: Jonas Kaufmann bei der Italienischen Nacht in der Berliner Waldbühne am 13. Juli 2018, es spielt das Radio-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Jochen Rieder:
Nun aber zur ganzen Oper: Als Giacomo Puccini 1921 mit der Komposition seiner zwölften und letzten Oper „Turandot“ begann, war er schon schwer krank. Drei Jahre später starb er in einer Brüsseler Klinik nach einer erfolglosen Kehlkopfoperation. Seine letzte Oper, die kompositorisch reifste und komplexeste, blieb unvollendet. Am 25. April 1926 wurde sie in der Mailänder Scala uraufgeführt.
Zum Zeitpunkt der Uraufführung war der Komponist schon fast anderthalb Jahre tot, unter unsäglichen Schmerzen seinem Kehlkopfkrebs erlegen. Von den realistischen Stoffen seines Opernschaffens hatte er sich abgewandt, um bis zuletzt an der Vertonung des Märchens von Carlo Gozzi zu arbeiten. "Turandot" - die einzige Puccini-Oper, deren Handlung in einer unbestimmten, märchenhaften Zeit liegt - spielt im alten Peking. Die Titelheldin ist eine grausame Prinzessin, die jeden, der um ihre Hand anhält, köpfen lässt, wenn es ihm nicht gelingt, vor dem Rat der Weisen drei Rätselfragen zu beantworten. Eines Tages macht ihr ein Prinz den Hof. Er beantwortet nicht nur die drei Fragen, sondern stellt der sich noch immer sträubenden Prinzessin seinerseits ein Rätsel: Bis zum nächsten Sonnenaufgang soll sie seinen Namen herausfinden. Wenn es ihr gelingt, will er gerne den Weg zum Schafott antreten.
Turandot hält in dieser Nacht ganz Peking wach: Keiner schlafe ("Nessun dorma"), so lautet ihr Befehl an das Volk. Jeder wird befragt. Schnell findet Turandot heraus, dass der fremde Prinz nicht alleine in der Stadt ist. Sein blinder Vater Timur und die Sklavin Liù gehören zu ihm. Turandot schreckt nicht vor Folter zurück, um ihre Aufgabe zu lösen, Liù, die den Prinzen heimlich liebt, stirbt. Doch je näher der Sonnenaufgang rückt, desto mehr gelingt es dem Fremden, das Herz der eisigen Prinzessin aufzutauen. Schließlich läuft die Zeit davon. Auf der Bühne erhebt sich unerbittlich die Sonne, während die beiden Hauptfiguren in einem ausgedehnten Duett gegeneinander ankämpfen. Am Ende verrät der Prinz selbst seinen Namen, und Turandot ist von ihrer Kälte erlöst. Wie immer: Den ausführlichen Inhalt zu den einzelnen Akten finden Sie am Ende dieses Newsletters.
Den eigentlichen Höhepunkt der Oper, die Erlösung der Turandot aus ihrer unmenschlichen Eiseskälte durch die Liebe, hat Puccini nie geschrieben, nur geplant:
„Ein großes Duett. Die zwei Wesen, fast aus der Welt, werden durch die Liebe zu Menschen, und diese Liebe muss am Ende alle auf der Bühne in einem großen Orchesterschluss ergreifen.“ Diesen Schluss hat der Mitarbeiter Franco Alfano nach Puccinis Skizzen erst 1926 fertiggestellt. Puccini war sich über seine tödliche Krankheit im Klaren. Wenige Wochen, bevor er starb, soll er gesagt haben: „Die Oper wird unvollständig aufgeführt werden, und dann wird jemand an die Rampe treten und sagen: An dieser Stelle ist der Maestro gestorben.“ In der Tat: Als Arturo Toscanini die Uraufführung dirigierte, brach er ab, unmittelbar nachdem sich die Sklavin Liù aus Liebe geopfert hat, und wandte sich mit belegter Stimme ans Publikum: „Hier endet die Oper, weil an dieser Stelle der Maestro gestorben ist.“ In der Regel wird heute die Fassung von Franco Alfano aufgeführt und "Turandot" somit monumental endet.
70 Jahre nach dem Tod erlöschen die Autorenrechte - aber erst, nachdem alle Mitautoren gestorben sind. Die meisten Opern Puccinis sind urheberrechtlich frei. Am Libretto der „Turandot“ arbeitete neben Giuseppe Adami noch der Chinakenner Renato Simoni mit, der 1952 starb. Somit verfallen die Rechte an diesem immer häufiger gespielten Werk erst in diesem Jahr (2022), zur Freude des Verlags Ricordi und der Erben. Der Komponist Luciano Berio hat im Auftrag des Verlags eine neue Fassung des Schlussakts hergestellt, die 2002 in Los Angeles uraufgeführt wurde und den Urheberrechtsschutz weiter verlängert.
Heute können Sie zwischen drei Mitschnitten wählen: Zunächst die berühmt gewordene Inszenierung von Franco Zeffirelli an der New Yorker Metropolitan Opera aus dem Jahr 1987. In den Hauptpartien waren am 7. April 1987 Eva Marton (Turandot), Placido Domingo (Calaf), Leona Mitchell (Liù), Paul Plishka (Timur) und Hugues Cuénod (Altoum) zu sehen, Chor und Orchester der MET wurden geleitet von James Levine:
Nur zwei Jahre (1982 - 1984) hielt es den Dirigenten Lorin Maazel auf dem Posten des Wiener Staatsoperndirektors. Im April 1984 beendete er vorzeitig seine Tätigkeit, nachdem der damals verantwortliche Minister (Helmut Zilk) Claus Helmut Drese als Nachfolger Maazels als Staatsoperndirektor ernannt hatte. 1983 war die Welt noch in Ordnung: In der Inszenierung von Harold Prince feierte "Turandot" eine umjubelte Premiere in einer grandiosen Besetzung: Eva Marton (Turandot), José Carreras (Calaf), Katia Ricciarelli (Liù), John-Paul Bogart (Timur) und Waldemar Kmentt (Altoum) sowie Chor und Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Lorin Maazel:
Und zum Abschluss noch eine Inszenierung, die weltweit Schlagzeilen gemacht hat: In der "Verbotenen Stadt" in Peking wurde im September 1998 der Traum vieler Musikfreunde in aller Welt wahr. Mit einer Vorbereitungszeit von fünf Jahren und einem Produktionsbudget von 15 Millionen US-Dollar wurde zum ersten Mal in der Operngeschichte "Turandot" an seinem Originalschauplatz aufgeführt, im Kaiserpalast aus der Ming-Dynastie, der auf das Jahr 1604 datiert wird. Der Dirigent Zubin Mehta und der Oscar-nominierte Regisseur Zhang Yimou arbeiteten bei der Inszenierung mit Solisten des Maggio Musicale Fiorentino und drei alternativen Besetzungen zusammen. Im folgenden Link sind in den Hauptpartien Giovanna Casolla (Turandot), Sergeij Larin (Calaf), Barbara Frittoli (Liù), Carlo Colombara (Timur) und Aldo Bottion (Altoum) zu sehen.
Dieses Mega-Event stand unter der Schirmherrschaft des chinesischen Kulturministeriums und war eine wahrhaftige multikulturelle Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Die Produktion basiert auf einer Inszenierung, die im Frühjahr 1997 bereits im Teatro Comunale in Florenz im Rahmen des Festivals "Maggio Musicale" aufgeführt wurde. Das Konzept wurde der grandiosen Kulisse angepasst - unter anderem mit fast 1.500 Kostümen, die der historischen Kleidung aus der Zeit der Ming-Dynastie nachempfunden sind. Schauplatz ist die Frontseite des Palastes, der heute "Kulturpalast des Volkes" heißt. Dieser Bereich, der von Gärten umgeben ist, diente in früheren Zeiten als Treffpunkt des Adels und war Schauplatz der Audienzen des Kaisers:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Inhalt
1. Akt
Turandot, die Tochter des Kaisers, hat verfügt, dass sie nur den Freier heiraten wird, der ihre drei Rätsel löst. Scheitert der Freier, wird er enthauptet. Der Prinz von Persien hat soeben versagt; der Hof bereitet ihn für die Opferung vor; die Gladiatoren stacheln die Menge an; alles schreit nach Blut. Ein alter, blinder Mann wird in ihrer Hysterie niedergetrampelt. Sein treuer Pfleger, Liù, bittet um Hilfe. Ein junger Mann, Calaf, springt zu dem alten Mann, nur um Timur zu entdecken, seinen lange verlorenen - und verbannten - Vater. Das Hauptereignis tritt ein: Turandot steigt herab und enthauptet ihren gescheiterten Freier. Calafs erster Blick auf Turandot zieht ihn in seinen Bann: Er muss sie erobern. Als das Spektakel endet und die Menge auseinandergeht, versuchen Timur und Liù, Calaf zu überreden, mit ihnen zu fliehen. Aber Calaf ist wie besessen von Turandot. Niemand kann ihn aufhalten. Turandots drei Minister, Ping, Pang und Pong - die drei Eunuchen, die diese schon viel zu lange andauernde Show aus Rätseln und Blutspielen leiten - versuchen, Calaf von der Verfolgung Turandots abzubringen. Doch ihre beabsichtigten Bemühungen verstärken nur Calafs Siegeswillen.
2. Akt
Ping, Pang und Pong genießen gemeinsam ein Picknick. Sie trinken viel und beklagen ihre Knechtschaft von Turandots Blutrausch; das Leben, das sie einst in einer anderen süßen, imaginären Heimat hätten führen können. Werden sie jemals frei sein? Die Trompeten ertönen: Die Pflicht ruft sie zurück, um Calaf als den nächsten Freier in Turandots Rätselspielen zu produzieren. Die Menge kommt, hungrig nach einem weiteren Spektakel mit Gladiatoren und Blut. Die Regierenden machen sich an die Arbeit und präsentieren den Kaiser. Auch er wünscht sich, dass das Blutvergießen ein Ende nimmt. Die goldene Braut, Turandot, trifft ein. Sie erzählt dem Freier von dem Willen ihres gefühllosen Herzens, die Reihe der Traumata zu beenden, die Männer ihren weiblichen Vorfahren zugefügt haben - psychischer und physischer Missbrauch, Vergewaltigung und Mord. Kein Mann wird Turandot auf diese Weise beanspruchen. Wie durch ein Wunder löst Calaf das erste Rätsel, das zweite ... das dritte. Die Menge tobt, Braut und Bräutigam sind schnell für die Hochzeit vorbereitet. Im Brautkleid zitternd, fleht Turandot ihren Vater an, die Hochzeit nicht zu erzwingen. Als Calaf ihren Schmerz noch einmal sieht und hört, knüpft er eine weitere Bedingung an seinen Preis, und gibt Turandot ein eigenes Rätsel auf. "Wenn du vor dem Morgen meinen Namen herausfindest, werde ich mein Leben verwirken."
3. Akt
Die ganze Stadt sucht die Nacht nach Calafs Namen. Calaf bleibt allein in dem rituellen Raum, entschlossen, dass die Morgendämmerung Turandot in seine Arme führen wird. Ping, Pang und Pong bieten Calaf jeden Preis für seinen Namen an: Frauen, Juwelen, eine sichere Flucht, aber Calaf will nichts davon annehmen. Er kehrt zum Altar zurück, um Turandots Antwort auf sein Rätsel zu erhalten, sieht aber stattdessen, wie Timur und Liù gefangen genommen werden. Turandot glaubt, dass die Folter die Wahrheit, die sie sucht, ans Licht bringen wird. Stattdessen beschließt Liù, sich das Leben zu nehmen. Timur folgt ihr. Turandot ist erschüttert über Liùs tiefe Liebe zu Calaf und ihre eigene Grausamkeit, die zum Tod einer unschuldigen Frau führte - genau wie die Männer, die sie verabscheute. Calaf macht Turandot Vorwürfe, die immer noch versucht, ihrem Schicksal der Heirat zu entgehen. Calaf führt sie auf eine letzte unerwartete Reise. In einem Akt von erhabener Vornehmheit und Verständnis bietet Calaf Turandot das metaphorische Opfer, das sie von einem Mann sehen musste, um ihr Herz zu öffnen. Turandot und Calaf umarmen sich. Der Kaiser ist endlich frei - der neue Kaiser und die neue Kaiserin treten vor ihr Volk.