Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
im Januar 2023 durfte ich die Deutsche Erstaufführung eines Werks für Orgel und Orchester des schwedischen Komponisten und Dirigenten Esa-Pekka Salonen in der Berliner Philharmonie erleben - heute stelle ich Ihnen dieses Werk gerne in dieser Ausgabe vor: Die Sinfonia concertante für Orgel und Orchester.
Schon vor Jahren traten Iveta Apkalna und Olivier Latry unabhängig voneinander mit der Bitte um ein Orgelkonzert an Esa-Pekka Salonen heran. Den letzten Ausschlag gab aber eine Anfrage aus Polen: „ Der Konzertsaal in Katowice bekommt eine neue Orgel, und ich wurde gefragt, ob ich zur Einweihung ein Orgelkonzert schreiben wolle“ , erklärte Salonen in einem Interview. „Während ich noch überlegte, kamen andere Orchester auf mich zu, um sich an dem Auftrag zu beteiligen. Da wurde mir klar, wie viele Konzertsäle fantastische Orgeln haben, für die es kaum Repertoire gibt. Mir gefiel die Idee, mit einem Werk einen faktischen Bedarf zu erfüllen.“ Die Arbeit an seiner Sinfonia concertante begann Salonen im Lockdown-Frühjahr 2020; 2022 schloss er sie ab. Iveta Apkalna und das Nationale Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks Katowice übernahmen am 13. Januar 2023 die Uraufführung in Katowice. Die deutsche Erstaufführung bestritten Olivier Latry und die Berliner Philharmoniker wenige Tage später am 19. Januar in Berlin.
Ist er ein Dirigent, der seine vielfältigen Kontakte nutzt, um auch eigene Werke aufzuführen? Oder ein Komponist, der aus seiner Dirigiererfahrung Inspiration gewinnt? Auf den Finnen Esa-Pekka Salonen trifft beides gleichermaßen zu. 1958 in Helsinki geboren, studierte er Horn, Dirigieren und Komposition an der Sibelius-Akademie seiner Heimatstadt. Sein Debüt als Dirigent gab er als 21-Jähriger mit dem Finnischen RadioSinfonieorchester, doch einem größeren Publikum wurde er 1983 bekannt, als er kurzfristig in London bei einem Konzert des Philharmonia Orchestra einsprang, wo er später Chefdirigent wurde. Als Komponist lässt sich Salonen von den Musikern inspirieren, die er auch als Dirigent bevorzugt: in erster Linie von Klassikern der Moderne wie Strawinsky, Prokofjew, Bartók oder den Komponisten der Schönberg-Schule. Ebenso finden sich aber auch spätromantisch anmutende Harmonien und Techniken der jüngeren Avantgarde in seinen Werken. Alles, was zu einer aufregenden, berührenden Musik beitragen kann, ist Salonen willkommen - nur Schubladen-Denken lehnt er ab.
Als dirigierender Komponist und komponierender Dirigent ist Esa-Pekka Salonen mit den Finessen der Orchestrierung bestens vertraut. Der Auftrag, ein Konzert für Orgel und Orchester zu schreiben, stellte ihn dennoch vor ein großes Problem: Die Orgel kann in jeder Hinsicht die Möglichkeiten eines Sinfonieorchesters abdecken. Sie hat mindestens den gleichen Tonumfang, die gleiche Dynamik und Farbpalette. Wie lässt sich aber ein Stück für zwei Orchester schreiben, ohne dass eines von ihnen als bloße Verdopplung des anderen überflüssig wäre? Nach langem Grübeln verfiel Salonen auf eine Lösung, die ihm wie das Ei des Kolumbus erschien: „Warum nicht einfach die Musik schreiben und sie dann für diese reichhaltigen und komplexen Instrumente, die Orgel und das Orchester, orchestrieren?“ Nach dieser Grundentscheidung beschloss Salonen, sein Werk nicht „Konzert“, sondern „Sinfonia concertante“ zu nennen. Dieser Begriff bezeichnete im späten 18. Jahrhundert ein Werk mit mehreren konzertierenden Instrumenten, weist hier aber vor allem auf die ständig wechselnde Rolle der Orgel hin: „Manchmal spielt sie allein, oft solistisch im traditionellen Sinn, oder als kammermusikalische Partnerin von Blasinstrumenten. Ein paar Mal wird sie auch Teil des Orchesters, Mitglied des Kollektivs in einer unterstützenden Rolle. Ich kann mir kein anderes Instrument mit einer solchen chamäleonartigen Flexibilität vorstellen.“
Der enorme Klangfarbenreichtum ist eine Besonderheit der Orgel. Eine weitere liegt in der langen, bis in die Antike zurückreichenden Tradition des Instruments. Einer reichen Geschichte, die bei heutigen Komponisten unterschiedlichste Assoziationen wecken kann. Salonen verzichtete zwar weitgehend auf musikhistorische Zitate, ließ sich aber vom Orgelklang dazu inspirieren, „alte“ Musik aus einer hypothetischen Welt zu erfinden, „aus einem alternativen Universum, das zwar immer noch das meine ist, aber ein wenig fremd.“ Die Vorstellung einer entfernt vertrauten, scheinbar alten Musik schwingt im Titel des ersten Satzes mit: „Pavane and Drones“. Die Pavane hatte ihre Blütezeit im 16. und frühen 17. Jahrhundert, doch schon ab dem späten 19. Jahrhundert empfanden Komponisten wie Gabriel Fauré, Maurice Ravel, George Enescu oder Peter Warlock den gravitätischen Schreittanz nach, um ihren Stücken eine archaische Anmutung zu geben. „Drone“ ist das englische Wort für Bordun, also für Liegetöne oder -klänge, wie sie etwa in der frühen mittelalterlichen Mehrstimmigkeit verbreitet waren. In Salonens Kopfsatz erklingt nach einem träumerischen Anfangsteil die Pavane zunächst in der Solo-Orgel. Die Streicher kommen nach einer Weile hinzu, und die Orgel schmückt ihre Phrasen aus. In einem neuen, unruhigeren Teil werden die filigranen Linien der Orgel von Holzbläsern begleitet. Die Pavane kehrt in veränderter Form in den Fagotten, später in den Hörnern und nach einer weiteren Solopassage im gesamten Orchester zurück. Schließlich erscheint auch die verträumte Eröffnungsmusik wieder, und der Satz endet in Stille.
„Variations and Dirge“ (Dirge = Trauergesang, Totenklage) ist der zweite Satz überschrieben. Zu Beginn spielen Solobratsche und Englischhorn eine langsame, nostalgische Melodie, begleitet von ruhig auf- und absteigenden Linien. Eine erste Solokadenz der Orgel schließt sich an, dann eine Variation des anfänglichen Auf und Ab, eine zweite Kadenz und eine weitere Tonleiter-Variation. Der Satz endet mit einer „dirge“ für die Orgel. „Meine Mutter starb während der letzten Phase des Kompositionsprozesses“ , schreibt Salonen dazu. „Ich beschloss, zu ihrem Gedenken einen Epilog zu schreiben. Er klingt nicht traurig, eher wie ein großes Schiff, das davonsegelt.“
„Ghost Montage“ lautet der Titel des Finalsatzes, in dem verschiedene schemenhaft erkennbare Gestalten aus einer - vielleicht nur eingebildeten - Vergangenheit auftreten. Salonen selbst erwähnt „laute Musik, inspiriert von den Orgelriffs, die man bei NHL-Eishockeyspielen in den USA hört“, dann „Anklänge an Beethovens Siebte, glaube ich“, verschiedene Varianten „alter Musik aus meiner Fantasiewelt“ und schließlich das einzige echte Zitat des Werks: Es handelt sich um eine vierstimmige Vertonung des gregorianischen Gesangs „Viderunt omnes“, die Pérotin, der bedeutendste Komponist der Notre-Dame-Schule, um das Jahr 1200 schuf. Nach zwei weiteren Orgelkadenzen und einer Wiederkehr der Eröffnungsmusik endet der Satz mit einem massiven B-Dur-Akkord, aus dem leise ein anderer, fremdartiger Akkord hervortritt - „ein weiterer Geist“ , so Salonen.
Unser heutiger Konzertmitschnitt kommt aus der Hamburger Elbphilharmonie. Iveta Apkalna und das NDR Elbphilharmonie Orchester spielten unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen dessen Werk "Sinfonia concertante für Orgel und Orchester" am 12. Mai 2023:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler