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11.03.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 600

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

in der 600. Ausgabe dieser Reihe erwartet Sie eine Rarität von Claude Debussy: Le Martyre de Saint Sébastien, nach einer Textvorlage von Gabriele d'Annunzio.

Claude Debussys 1911 entstandenes Oratorium löste bei seiner Uraufführung einen Skandal aus, der vergessen ließ, dass hier ein musikalisches Hauptwerk des französischen Impressionismus entstanden war. Hauptärgernis: Ida Rubinstein, eine jüdische Tänzerin "mit nackten Beinen", die den christlichen Heiligen spielte. Der Erzbischof von Paris drohte sämtlichen Beteiligten und Besuchern mit Exkommunikation. Bald darauf setzte der Heilige Stuhl sämtliche Schauspiele, Romane und Schriften von Gabriele d’Annunzio, der zu allem Überfluss angeblich etwas mit „der Rubinstein hatte“, auf den Index der verbotenen Bücher, ohne dass die eigenwillige Verbindung der Heiligenlegende und der Adonis-Verehrung damit etwas von ihrem Erfolg eingebüßt hätte. Der Courrier musical lobte hingegen die "begeisternde Art, mit der Monsieur Debussy die Chormassen behandelt hat: Die Musik verschwendet sich; sie ist bald feierlich, bald wollüstig, exaltiert in Küssen oder besänftigt in Gebeten."

Ein Hauptmann der Prätorianergarde, der sich zum Christentum bekennt? Das konnte Kaiser Diokletian Ende des dritten Jahrhunderts in Rom nicht ungestraft lassen. Er befahl, Sebastian mit dem Bogen zu erschießen. Doch der elegante Soldat, der der Legende nach sowohl mit gutem Benehmen als auch mit einem attraktiven Äußeren und sehr viriler Männlichkeit ausgestattet gewesen sein soll, war nicht so leicht zu beseitigen: Von der Witwe Irene ließ er sich gesund pflegen, ging erneut zum kaiserlichen Hof und sprach wiederholt öffentlich von seinem Glauben. Keulenschläge brachten ihn schließlich um.

Seit dem vierten Jahrhundert verehrt ihn die katholische Kirche als Heiligen, und auch die Protestanten erinnern noch heute an Sebastian. Er hilft bei Pest und anderen Seuchen, hält Brunnen sauber und ist Patron der Sterbenden, der Polizisten sowie beispielsweise der Steinmetze. Auf zahllosen Gemälden ist er mit blutigen Wunden und Pfeilen in der Brust oder auch mit Schild und Schwert zu sehen. Seit der Neuzeit dominieren jedoch Darstellungen als kräftiger, schöner Mann - kurz: als eine Art Nachfahre des griechischen Adonis.

Dass in der Uraufführung von Debussys "Le Martyre de Saint Sébastien" 1911 eine Frau die Hauptrolle übernahm, beruht auf der Entstehungsgeschichte: Ida Rubinstein, eine wohlhabende, jüdische Tänzerin der von Sergei Diaghilew gegründeten Ballets Russes, beauftragte Gabriele D’Annunzio mit der Erstellung des Librettos sowie Claude Debussy mit der Komposition der Musik - und verkörperte den Heiligen Sebastian auf der Bühne schließlich höchstselbst. Der Pariser Erzbischof zürnte: Ein Heiliger werde unwürdig dargestellt. Und Debussy meinte nur: "Ist der Glaube, den meine Musik ausdrückt, orthodox oder nicht? Ich weiß es nicht. Es ist mein Glaube, der mit aller Aufrichtigkeit singt."

So waren es in erster Linie der (formvollendete) Tanz der Ida Rubinstein, der die Kirche gegen das Werk aufbrachte, sowie der (ausufernde) Text, der die Uraufführung zu einem Misserfolg auch beim ungläubigen Publikum machte; in der Überlieferung ist gar von einem Fiasko die Rede. Denn Gabriele d’Annunzio hatte ein etwa vier Stunden dauerndes Stück geschaffen, das mitsamt schwülstiger Jahrhundertwende-Metaphorik für ausgiebiges Gähnen sorgte - während Debussys Musik, die in nur drei Monaten entstand und von André Caplet instrumentiert wurde, deren künstlerischer Gehalt aber ungleich höher anzusetzen ist als der Urtext, rund eine Stunde dauert.

Aus fünf Handlungen besteht das Oratorium, die verschiedene Stationen aus Sebastians Lebensweg schildern. Die erste trägt den Titel "Der Hof der Lilien" und beschreibt das tatkräftige Eingreifen des Helden in das Schicksal des Zwillingspaares Marcus und Marcellianus. Die beiden wurden zum Tode verurteilt, da sie an Christus glauben. Sebastian ruft nun den Himmel um ein Zeichen an: Er schießt einen Bogen in die Lüfte - der nicht wieder zum Boden zurück fliegt. Und er tanzt auf glühenden Kohlen - die sich daraufhin in Lilien verwandeln.

Die zweite Handlung zeigt "Das magische Zimmer", in dem der kranke Präfekt der Stadt Rom Götzenbilder aufbewahrt. Als Sebastian die Kammer samt Inhalt zerstören lässt, wird der Besitzer plötzlich wieder gesund - ein Zeichen, das unmissverständlich den Weg vom falschen zum richtigen Glauben weist. Die Jungfrau Erigone, deren Stimme zwischendurch zu hören ist, entstammt übrigens der griechischen Mythologie: Sie ist die Tochter des Ikaros, die sich selbst erhängt und im Sternbild Jungfrau weiterlebt.

In "Das Konzil der falschen Götter" wird Sebastians Glaubensbekenntnis auf beinahe philosophischer Ebene behandelt: Warum verhält er sich zu seinem Kaiser Diokletian nicht loyal? Warum glaubt er an einen neuen Gott? Und warum lässt er diesen Gott sich nicht einfach einreihen in die Gruppe der alten Götter? Das wäre doch am einfachsten... Doch Sebastian bleibt stur, wird daher verurteilt und an einen Lorbeerbaum gebunden, an dem er von Pfeilen durchbohrt werden soll. In der vierten Handlung "Der verwundete Lorbeer" erfahren wir, wie Sebastian im Moment des Todes die Gestalt des guten Hirten erblickt und von den Frauen von Byblos beweint wird. Nun ist er ein echter Märtyrer, und zum Abschluss wird er in "Das Paradies" von Heiligen und Engeln dort begrüßt.

Debussys Musik, die dieses Tableau verschiedener Situationen ausmalt, ist aus verschiedenen Gründen sehr speziell: Zum einen schuf er mehrere sehr unterschiedliche Formen, etwa Orchesterzwischenspiele, Arien und Chorpassagen. So bleibt es auch nach wie vor - wie schon bei der Uraufführung - schwer zu sagen, ob es sich bei dem Werk um eine Oper, ein Oratorium, ein Ballett, ein Theaterstück mit Musik oder etwas gänzlich anderes handelt. Und zum anderen vermochte er es, seinen "Glauben, der mit aller Aufrichtigkeit singt", in sehr zarten, leisen, tonal-melodiösen Klangflächen auszudrücken, die irgendwo zwischen sehr alter Musik, dem Impressionismus, Wagners Parsifal und damals noch unbekannten, aber richtungsweisenden Klängen der kommenden Moderne anzusiedeln sind. So gehört dieses in jeder Hinsicht Eindruck hinterlassende Werk zu den geheimnisvollsten und zart-blühendsten Werken in Debussys an musikalischen Mysterien ohnehin nicht armem Œuvre.

Unser heutiger Mitschnitt ist zugleich auch ein historisches Dokument - es ist das Gründungskonzert des Lucerne Festival Orchestras, das von Claudio Abbado mit langem Vorlauf gegründet wurde. Das international einzigartige Orchester sorgte gleich zu Beginn des Festivals für musikalische Großmomente und weltweite Schlagzeilen: „Ein Dirigent ist zurück, ein wiedergeborenes Orchester“, schrieb die New York Times; „Das Wunder von Luzern“, lobte der Berliner Tagesspiegel. Mit diesem neu gegründeten Orchester setzte Abbado die lange Tradition eines ansässigen Festspielorchesters fort, die Arturo Toscanini beim ersten Luzerner Sommerfestival mit einem Galakonzert begann, als er 1938 vor Wagners ehemaligem Wohnsitz in Tribschen dirigierte.

Im neuen Lucerne Festival Orchestra trafen berühmte Musiker zusammen, an den Pulten des Orchesters saßen Solisten wie Kolja Blacher, Renaud und Gautier Capucon, Wolfram Christ, Stephan Dohr, Georg Faust, Natalia Gutmann, Albrecht Mayer, Emmanuel Pahud, Diemut Poppen und Alois Posch sowie Mitglieder des Hagen Quartett und das Ensemble Sabine Meyer. Die Basis bildet das Mahler Chamber Orchestra - rund 50 Musiker, mit denen Abbado seit Jahren zusammenarbeitete. Das Gründungskonzert fand am 15. August 2003 im Luzerner Kultur- und Kongresszentrum statt, es musizierten Rachel Harnisch, Eteri Gvazava, der Schweizer Kammerchor und das Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd